Nietzsches Werk scheint dazu bestimmt zu sein, immer wieder auf Gemeinplätze reduziert zu werden. Der bündige, schmissige Stil, in dem dieses Werk über weite Strecken verfaßt ist, leistet dieser Vereinfachung Vorschub. Man kann das allerdings auch positiv sehen: Dynamistisch gehen Philosopheme hier über in die Sprache des wahren Lebens. Sie beginnen dort fortzuleben und, womöglich, die Realität zu verändern. Die Generationen, die nach dem unscharf zitierten Grundsatz „Was nicht tötet, härtet ab“ erzogen wurden, sahen in Nietzsche bekanntlich den Vertreter einer Philosophie der Macht und des „Übermenschen“. Sie sahen in ihm nicht den „Philosophen“, sondern vielmehr den Überwinder der Philosophie mit ihren eigenen Mitteln. Mit diesem Nietzsche im Tornister stritt es sich leichter. Wer will, kann darin den unmittelbarsten Einfluß sehen, den Philosophie unter Zurücklassung ihrer eigenen Zukunft aufs Leben zu nehmen imstande ist. Alle anderen sprechen von Mißverständnissen. Nietzsche-Maximen werden zu Zeichen Auch Ernst Jünger gehörte zu der Generation der eher pragmatischen Nietzsche-Anwender. Und so nimmt es nicht wunder, wenn sich in Jüngers Werk, auf das Friedrich Nietzsche einen kaum zu überschätzenden Einfluß ausübte, immer wieder jene kompakten Sätze finden, die, aus ihrem Zusammenhang genommen, ihre signalhafte Wirkung erst wirklich entfalten. „Was mich nicht umbringt, macht mich stärker“, „Denn alle Lust will Ewigkeit“, „Gott ist tot“, „Die Wüste wächst/Weh dem, der Wüsten birgt“: Diese Zitate sind zum einen ein Reflex jener generationsbedingten Signalverwendung der Sentenzen Nietzsches. Jünger zitiert beispielsweise bis in die allerspätesten Tagebücher den Satz „Gott ist tot“, um Nietzsche als Zeugen für die eigene Deutung der Erdgeschichte anzurufen. Dabei bleibt es unklar und letztlich auch irrelevant, wie Jünger diesen Satz Nietzsches versteht: ob als Endergebnis einer metaphysischen Spekulation oder aber, was etwas ganz anderes ist, als Feststellung einer gesellschaftlichen Realität, als eine Feststellung, die Gott nicht als substantiell tot, sondern als „nicht-von-den-Menschen-gelebt“ beschreibt. Für diese Art gedanklicher Ziselierung ist Nietzsche in der Wahrnehmung der Nietzsche-Pragmatiker der um die Jahrhundertwende Geborenen nicht zuständig. Allerdings tut man Ernst Jünger unrecht, wenn man nur diesen Einschlag sieht. Beschränkt man sich darauf, so dringt man nicht durch die erste Nietzsche-Schicht in Jüngers Werk hindurch, die durch eben jene Maximen gebildet wird. Die Nietzsche-Maximen stehen nicht isoliert als Reste einer wilhelminischen Lebenshaltung und eines körperbetonten Pragmatismus, sondern sie werden, wie alle Zitate in Jüngers Texten, in neue Zusammenhänge eingebunden. Um sie kristallisiert sich Jüngers eigenes Denken. Sie werden solcherart zu Zeichen, die der Vernetzung und Kommentierung bedürfen. Diese Zeichen veranschaulichen und erweitern den eigenen Gedankenfluß, ja sie geben ihm eine historische Perspektive. Indem Jünger diese Zeichen in die eigenen Texte aufnimmt und sie fortschreibt, stellt er sich selbst als Fortsetzer in jene Tradition. Nicht nur Jünger selbst sah sich als Erbe Nietzsches. Auch Martin Heidegger interpretierte Jüngers „Arbeiter“ und die „Totale Mobilmachung“ als die einzige zeitgemäße Aktualisierung von Nietzsches Denken. Jünger, so Heidegger, sieht die „heutige Wirklichkeit als Wille zur Macht“. Jünger setzt Nietzsches Denken fort, ja er führt es, die abendländische Metaphysik zu einem Ende bringend, weiter. Heidegger: „Was Jünger deutlicher sieht als Nietzsche ist das, was Nietzsche zu seiner Zeit in diesen Erscheinungen noch nicht sehen konnte, da sie selbst noch in der Wirklichkeit versteckt lagen. Im Ganzen sind es die Erscheinungen der Technik als der Grundweise der Einrichtung und Sicherung des Wirklichen als Wille zur Macht.“ Jünger kann diese Wirklichkeit als Wille zur Macht, die Nietzsche noch „erfragen“ (Heidegger) mußte, nun „beschreiben“, da diese Wirklichkeit jetzt sichtbar ist. Dies ist die zweite, auch chronologisch spätere Nietzsche-Schicht im Werk Ernst Jüngers. Doch bekanntlich zeichnet sich Jüngers Werk nach der zweiten Jahrhunderthälfte dadurch aus, jene nihilistischen Positionen der 1930er Jahre hinter sich zu lassen. Was geschieht, so kann man fragen, an jener Schwelle mit Friedrich Nietzsche? In welche Schicht dringt der Leser, der immerhin schon bis hierher gekommen ist, dann vor? Oder anders gefragt: Was an Nietzsche nimmt Jünger mit „Über die Linie“? Die Geburt einer neuen Werteordnung Diese Frage läßt sich leichter stellen als beantworten. Pragmatische Nietzsche-Signale sendet Jünger bis 1996 aus. Diese Kontinuität vermittelt zunächst den Eindruck großräumiger Stringenz. Doch – und diese Einsicht hilft hier weiter – befinden wir uns erst auf der obersten Schicht. Es gibt einen markanten Punkt in Jüngers Werk, an dem bereits terminologisch ein Umschlag stattfindet, der von Nietzsche weg- und in die dritte Schicht sozusagen hinabführt. Dieser Wendepunkt ist gekennzeichnet durch die Einführung des Schmerzes als einem elementaren Wert. Jünger räumt in seinem Essay „Über den Schmerz“ (in der Sammlung „Blätter und Steine“, 1934) einem Phänomen breiten Raum ein, das in der Tradition Nietzsches höchstens als Stimulans körpereigener Widerstandskräfte und als Durchgangsstadium Berechtigung hat oder das – als „Leiden“ und „Mitleiden“ – für die Schwäche und Dekadenz der abendländischen Welt steht. Jünger aber anerkennt den Schmerz als eine Figur des Elementaren. Der Schmerz markiert die Geburt einer neuen Werteordnung, weil er zugleich den letzten und den ersten Wert der abendländischen Ordnung darstellt. Nicht die Überwindung des Schmerzes, sondern die Tatsache seiner unauflöslichen, unüberschreitbaren Existenz ist wesentlich. Die Bedeutung des Schmerzes liegt nicht darin, daß er den Menschen zum Duell herausfordert, in dem einer von beiden ausgelöscht wird, sondern darin, daß der Mensch im Schmerz eine Steigerung erleben kann. Denken in mythischen Räumen und Bildern Der Schmerz als Phänomen öffnet Perspektiven. Mit dieser Einsicht bewegt sich Jünger von Nietzsche weg. Er löst die Figur des Schmerzes aus dem Kontext des Leidens und Mitleidens, der für Nietzsche der Kontext der Schwäche des Christentums war, und verankert ihn tief in den Fundamenten des Seins. Jünger ersetzt dadurch den „Willen zur Macht“ durch einen „Willen zum Schmerz“. Damit sind eine Reihe von Konsequenzen verbunden. Jünger rückt mit dieser Kehre in die christliche Tradition des „Schmerzensmanns“ ein. Die Rückführung des Leidens auf den Schmerz als elementarer und letztgültiger Kategorie verweist Jünger auch zurück auf die Ursprünge des christlichen Abendlands. Äußeres Zeichen hierfür ist die zu diesem Zeitpunkt einsetzende Lektüre der Bibel und der Tagebücher Léon Bloys, deren Gegenstand ein christliches Leben ist, das im Schmerz seine Selbsterfüllung findet. Eine weitere Konsequenz: Jünger rückt ab von dem, was er selbst einmal den „heroischen Realismus“ genannt hat und was Heidegger neu formulierte als „Beschreiben des Wirklichen als Wille zur Macht“. Statt dessen entwickelt sich nun ein Denken in mythischen Räumen und Bildern, das die Wirklichkeit einschließt, sie zugleich aber auch relativiert. Es sind nun nicht mehr jene leeren, kahlgefegten Bühnen Nietzsches, auf denen sich mit unerbittlicher Konsequenz der Wille zur Macht entfaltet, die die Topologie der Jüngerschen Texte bestimmen. Die Bühnen dieser Texte beginnen sich nun mit mythologischem Personal zu füllen. Zu diesem Personal zählen von nun an nicht nur die Götter, sondern auch der christliche Gott. Dr. Alexander Pschera ist Germanist. Im Rahmen dieser JF-Serie sind bisher von ihm Beiträge erschienen über Ernst Jünger und Hermann Löns (JF 5/05), Léon Bloy (JF 9/05), Franz Kafka (JF 14/05), Aldous Huxley (JF 18/05) und Otto Weininger (JF 28/05). Von Harald Harzheim stammen Beiträge über Maurice Barrès (JF 23/05) und den Marquis de Sade (JF 37/05), von Alexander Michajlovskij über Dostojewski (JF 33/05) und von Wolfgang Saur über Jacob Burckhardt (JF 3/06). Foto: Nietzsche als Abiturient, aufgenommen 1864: Auf Ernst Jünger übte der Philosoph einen kaum zu überschätzenden Einfluß aus Zeit seines Lebens war der Schriftsteller Ernst Jünger (1895-1998) ein großer Leser. Mehr noch: Lektüre stellte einen Teil seiner Existenz dar. Spuren dieses Lesens durchziehen sein Werk – von den „Stahlgewittern“ bis zu „Siebzig verweht V“. Um Jünger zu verstehen, muß man diesen Spuren folgen, leiten sie doch zu Bedeutungsräumen, die hinter dem Text verborgen liegen. Jünger lesen heißt also „Spuren-Lesen“. Diese JF-Serie versucht, einige Fährten aufzunehmen und ansatzweise zu entziffern. Und sie will natürlich auch zur Lektüre von Jüngers Lektüren anregen.