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Das Fanal von Zeitz

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Der 18. August 1976 – ein Sommertag in der DDR. Der evangelische Pfarrer Oskar Brüsewitz kommt mit einem Auto in die Kleinstadt Zeitz. Bei sich hat er eine große Kanne mit Benzin und eine Holztafel, deren Aufschrift vor dem Kommunismus warnen soll: „Funkspruch an alle … Funkspruch an alle! Die Kirche in der DDR klagt den Kommunismus an! Wegen Unterdrückung in Schulen an Kindern und Jugendlichen“. Nachdem Brüsewitz die Tafel aufgestellt hat, übergießt er seinen Talar mit dem Benzin und zündet sich an. Vier Tage später stirbt er. Sofort beordert der DDR-Staatssekretär für Kirchenfragen den Leiter des Sekretariates der evangelischen Kirchen, Manfred Stolpe, zu sich. Noch am gleichen Tage eilen sie nach Magdeburg, um die Kirchenleitung massiv unter Druck zu setzen. Von der Tat eines „Verrückten“ war die Rede. Nichts dürfe bekannt werden, schon gar nicht in der westdeutschen Presse. Solidarität mit dem Staat sei zu zeigen, stimmt auch Stolpe zu, der spätere Ministerpräsident Brandenburgs und Bundesverkehrsminister. Was ist von dieser unfaßbaren Tat geblieben, die so viele Menschen nicht bloß im damals freien Teil Deutschlands erschütterte? Warum fand sie statt? War es wirklich bloß ein Appell an die Kirche, ja an die gesamte westliche Öffentlichkeit, nicht weiter schweigend dem Unrecht und der Gewalt gegenüber zu verharren? Seit Jahren versuchen verschiedene Autoren das Motiv zu ergründen; zum Beispiel Freya Klier, Helmut Müller-Enbergs oder Wolfgang Stock. Der in Emsdetten lebende Schriftsteller und Journalist Alexander Richter, Jahrgang 1949, geht den Fragen mit unterschiedlichen Ansätzen nach, stets den Blick auf die politischen Verhältnisse während der Zeit des Kalten Krieges zwischen Ost und West gerichtet. Richter ist kein unbeschriebenes Blatt: In der Nähe von Potsdam aufgewachsen, studiert er an der Humboldt-Universität Ökonomie und arbeitet anschließend sechs Jahre im Finanzministerium der DDR – bis 1982, als er wegen „staatsfeindlicher Hetze“ zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt wird. Er wollte ein Manuskript im Westen veröffentlichen, doch der Stasi gelang es, all seine Briefe abzufangen. Die Hälfte der Strafe sitzt Richter ab, um nach drei Jahren – per Häftlingsfreikauf in der Bundesrepublik angekommen – endlich seiner schriftstellerischen Tätigkeit nachgehen zu können. Inzwischen hat er selbst 16 Bücher geschrieben und bietet mit seinem eigenen Verlag hoffnungsvollen Autoren eine wichtige Plattform. Das vorliegende Werk umfaßt gut 160 Seiten, die allerdings nicht so schnell zu lesen sind. Es wird weniger dokumentiert als kommentiert. Sehr viel wird gedacht und simuliert, verglichen und gewertet, mehr philosophiert als inszeniert. Immer wieder wirft Richter Fragen auf, die einen veranlassen, das Buch zwischenzeitlich wegzulegen, um über das Gelesene nachzudenken. Ungewöhnliche Stilmittel verstärken diesen Algorithmus und lassen den Band zusätzlich interessant erscheinen. So findet man bereits im vorderen Teil ein wunderschönes Gedicht aus dem Jahre 1979, „Das Lichtlein“. Und überhaupt: Lyrik und Poesie sind es, die zu den Stärken des Autors zählen. „Jeder gelebte Tag ist ein Teppich, der tausend unterschiedliche Muster und Färbungen erfährt“, heißt es. Dann plötzlich präsentiert er wieder knallharte Dokumentation, wie aus heiterem Himmel. Was mancher Literaturlehrer der alten Schule als Stilbruch auffassen könnte, läßt der Autor zu einer gewagten Synthese dieser Mittel verschmelzen. Einmal vergleicht Richter den Fall Brüsewitz mit einer anderen Selbstverbrennung, die sich wesentlich später, nämlich nach dem Fall der Mauer im Schwarzwald zugetragen hat. An anderer Stelle erscheint eine Analogie zu Michael Gartenschläger. Letzterem war es gelungen, eine DDR-Selbstschußanlage abzumontieren, um sie den Vereinten Nationen in New York als Beleg für das unmenschliche System in Pankow vorzulegen. Anders als Brüsewitz richtete er sich nicht selbst, sondern wurde aus einem Hinterhalt von der Stasi erschossen. Tiefsinnig fragt der Autor, ob Brüsewitz womöglich Gartenschlägers Mut zu denken gegeben habe, „in dem sich ganz gewiß mehr als nur ein Stück Geringschätzung des eigenen irdischen Lebens spiegelte“. Dies allerdings läßt den Leser die Gegenfrage stellen, ob denn Brüsewitz tatsächlich das irdische Leben – nämlich das seine – geringschätzte. Richters Werk ist ein knapp zwanzigseitiges, bisweilen scharf pointiertes Essay von Guido Dahl, Jahrgang 1945, angefügt. Diesem merkt man an, daß der Freitod von Oskar Brüsewitz unter keinen Umständen gebilligt wird. „Wer (…) darf es sich erlauben, ihn aus der Schar der Gläubigen auszugrenzen, zu bestrafen, zu bannen, der Gnade Gottes als verlustig anzusehen?“ fragt Dahl. Der Pfarrer habe „sein Gerichtsfeuer selbst vorweggenommen“, wird resümiert, und „kümmere sich nicht um Moral und das, was andere davon halten“, um philosophisch mit Elazar Benyoetz zu schließen: „Wer sich das Leben nimmt, der wollte es haben!“ „Vorhang zu und alle Fragen offen“, könnte man vereinfachend mit dem von Kritiker Reich-Ranicki immer wieder bemühten Brecht-Zitat schließen. In der Tat: Das sehr sensible und ehrliche Buch Richters läßt zu jener Verzweiflungstat des Pfarrers aus Rippicha tatsächlich eine Menge Fragen offen. Soll es vermutlich auch. Denn dem Autor geht es weniger um Antworten als vielmehr die Begründungen für seine umfassenden Fragestellungen, die manch ein Zeitzeuge auch heute noch gerne zu verdrängen sucht. Alexander Richter: Das Unfaßbare. Ideale und Konsequenzen im Leben und Tod des Oskar Brüsewitz. First minute Taschenbuchverlag, Emsdetten 2006, 162 Seiten, broschiert, 14,90 Euro Foto: Pfarrer Oskar Brüsewitz am 1. August 1976 mit Transparent in Rippicha: „Wer sich das Leben nimmt, der wollte es haben!“

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