Seit Mitte der neunziger Jahre gibt es in Deutschland eine Debatte über den Sinn von Schuluniformen. Die Bundesländer Berlin, Hamburg und Brandenburg, in denen manche Schulen Einheitskleidung vorschreiben, haben nur erzieherische Gründe für diesen Schritt angegeben. Lehrer und Eltern wollen vor allem etwas gegen den „Markenterror“ tun, das heißt die Ausgrenzung von Kindern und Jugendlichen unterbinden, die sich nicht am Wettbewerb um exklusive Kleider und Schuhe beteiligen können oder wollen. Insofern war die erste Debatte über Schuluniformen eine Reaktion auf das Ende der „postmateriellen“ Ära. Die betonte Nachlässigkeit im Äußerlichen, die im Gefolge der Achtundsechziger-Revolte um sich gegriffen hatte und auch von den alternativen Bewegungen weitergetragen wurde, hatte vorbehaltlosem Konsum Platz gemacht, auf den der Erziehungssektor kritisch reagieren mußte. Überraschend war der relativ geringe Widerstand. Zwar gab es hier oder da die üblichen Warnungen vor einem Rückfall in finstere Abschnitte der na-tionalen Vergangenheit, aber der Ton blieb verhalten. Das hing auch damit zusammen, daß Schuluniformen ausdrücklich nicht eingeführt wurden, um offensichtlicher Geschmacklosigkeit oder der zunehmenden Sexualisierung des Auftretens pubertärer Mädchen zu wehren; entsprechende Vorstöße – Verbot tief dekolletierter oder bauchfreier Bekleidung – blieben ohne Aussicht auf Erfolg. Das politisch Akzeptable, die Verheißung von mehr Egalität, erleichtert es nun auch Bundesjustizministerin Brigitte Zypries, für Schuluniformen zu plädieren, um das neue Antidiskriminierungsgesetz zu stützen und die Integration ausländischer Kinder voranzutreiben, vor allem dann, wenn diese auf religiös begründeten Kleiderregeln bestehen; in einem Interview äußerte sie, Schuluniformen böten „eine einfache Lösung zur Konfliktvermeidung – Damit beseitigten wir nicht nur die Burkas, sondern auch Probleme, die sich durch soziale Unterschiede ergeben“. Die „Lust“ an der Uniform spüren nicht nur Militaristen Die Einebnung der Differenzen von Individuen zugunsten eines größeren Ganzen ist ohne Zweifel eine wichtige Aufgabe von Uniformierungen. Angefangen bei gleicher Körperbemalung, Tätowierung, Narbung oder Verstümmelung über das Festlegen von Frisuren und Schmuckelementen mit Signalcharakter bis zur Einheitskleidung zeigt sich in Menschengruppen die Neigung, Zusammengehörigkeit optisch darzustellen. In der Verhaltensforschung wurde die These vertreten, daß unsere „Pseudospezies“ (Irenäus Eibl-Eibesfeldt) durch künstliche Mittel erreichen müssen, was Tierrudel durch natürliche bewirken können. Der Bezug auf das Natürliche könnte auch die „Lust“ (Michel Pastoureau) an der Uniformierung erklären, die sich keineswegs auf Militaristen beschränkt, sondern schon an der Neigung von Zwillingen zu identischem Outfit gezeigt werden kann oder an der einheitlichen Gesichtsschminke und Montur von Fußballfans. Aber sonst ist Uniformität eine ernste und das heißt vor allem männliche Sache. Jede vergleichende Untersuchung zeigt, daß zu allen Zeiten und in allen Weltgegenden bestimmte Merkmale zur Uniform gehören: Farbenpracht, Kontrastwirkung, Vergrößerung von Körperhöhe und Schulterbreite – alles, was sich als „internes Erkennungs- und externes Imponiermittel“ (Otto König) eignet. Das heißt, Uniformen haben eine doppelte Funktion: Sie bringen die Identität einer Gruppe zum Ausdruck und grenzen sie gegen andere ab, sie vermitteln den Trägern das Gefühl von Geschlossenheit und den Nichtträgern das von Ausgeschlossenheit. Daher rührt auch die Bedeutung des Widerspiels von Uniform und Gegen-Uniform, das in der gegenwärtigen Diskussion ganz außer acht gelassen wird. Gerade in Ländern, die Erfahrung mit Schuluniformen haben, wie etwa Großbritannien, ist sattsam bekannt, daß sie nur dann bereitwillig – sogar in der Freizeit – getragen werden, wenn das als prestigeträchtig gilt. Dementsprechend sind Uniformen vornehmer Privatschulen etwas völlig anderes als die der staatlichen Bildungsinstitute. Wer Zweifel an der potentiellen Aggressivität solcher Dresscodes hat, der sei wenigstens an Erich Kästners „Fliegendes Klassenzimmer“ erinnert, wo in immer noch erhellenden Szenen erbittert um deutsche Schülermützen gekämpft wurde. Daß Uniformen Korpsgeist zeigen, daß es sich um Sonderkleidung handelt und sich die Gleichheit nur auf die dieselbe Uniform tragende Einheit bezieht, die sichtbar von anderen, nämlich den Ungleichen, abgehoben wird, markiert die Grenze zur Tracht, die zuerst auf Integration von Gesamtgruppen abzielt und einen zivileren Charakter hat; ihre spezifischen Eigenarten bestehen sogar länger in der weiblichen Variante. Sehr wahrscheinlich ist die Uniform aus der Tracht hervorgegangen, aber das spielt für unseren Zusammenhang keine Rolle. Beide sind „Abzeichen“ (Heinrich Schurtz) einer bestimmten Gemeinschaft. Auch die Einheitlichkeit der Tracht war verbindlich, jede Abweichung strafwürdig. Allerdings erscheint die Tracht als Teil des Brauchtums, das überliefert wird und nicht auf formalisierten Anweisungen beruht wie die Uniformierung. Im allgemeinen wirkt der Zwang zur Tracht nur indirekt. Trachten als Zugehörigkeitssymbol haben sich in Europa bis zum 20. Jahrhundert erhalten, außerhalb Europas bis in die Gegenwart. Besondere Amts- oder Standestrachten können als Abarten des Grundmusters betrachtet werden, die schon früh mit speziellen Insignien von Alters- und Funktionsklassen, von Häuptlingen oder Priestern auftraten. In jedem Fall erschließt sich der Zweck der Tracht aus der Zuordenbarkeit des einzelnen aufgrund solcher Bekleidung. Mit dem Recht oder der Pflicht, eine bestimmte Tracht zu tragen, wird seine Stellung bestimmt. Daher rührt der große Wert, den man in traditionellen Gesellschaften auf die Art und Weise legte, wie jemand mit einer Funktion „bekleidet“ wurde, und die Härte der Buße, wenn jemand eine Kleidung anlegte, die ihm nicht zustand. Im Gefolge der Industrialisierung verschwand die Tracht und damit die Strenge solcher Regeln. Geblieben ist eine kleine Zahl von Amtstrachten, etwa die Robe der Richter oder der Talar des Geistlichen. Ihre Funktion ist von der der Uniformen nicht mehr zu trennen. Diese Angleichung ist aber nicht ganz neu, sondern entspricht einer frühen Tendenz, die Uniformierung vom militärischen auf den zivilen Bereich auszudehnen. Schon im antiken Iran oder China gab es neben der Uniformierung von Kriegern die von Beamten. In Europa lag eine Wurzel des modernen Uniformwesens in den mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Livreen; die Begriffe Livree und Uniform wurden bis ins 18. Jahrhundert sogar synonym verwendet. Derartige ausgesprochen kostspielige Einheitskleidung gaben Adlige an ihre Gefolgschaft aus, einerseits, um sie symbolisch zu verpflichten, andererseits, um den Eindruck zu verstärken, den der öffentliche Auftritt der Uniformierten, etwa beim Zusammentreffen mit rivalisierenden Gruppen bei Hofe, auslöste. Die Tendenz zur Ausdehnung der Uniformität und damit des Zugriffs lag dem Absolutismus besonders nahe, der begann, den Herrscher selbst als Uniformträger zu zeigen und den größeren Teil der Staatsdiener zu uniformieren. Dazu war man jetzt auch technisch in der Lage. Die Idee einer vollständigen Uniformierung reifte allerdings erst in den großen politischen Utopien aus. Sie waren von dem Gedanken fasziniert, ganze Bevölkerungen umzukleiden, dadurch umzuerziehen und symbolisch zu verschmelzen. Man hat das Europa der Zwischenkriegszeit des 20. Jahrhunderts als ein „Europa in Hemden“ (Pol Vandromme) bezeichnet, und keine Weltanschauung verzichtete damals auf die Uniformierung ihrer Anhänger – von der äußersten Linken über die Liberalen und die Katholiken bis zur äußersten Rechten. Der Versuch, eine für alle Bürger verbindliche Kleidung durchzusetzen, blieb jedoch auf die totalitären Systeme beschränkt. Kommunismus, Faschismus und Nationalsozialismus sahen hier eine Möglichkeit des Ausgreifens auf das Individuum, das durch die Uniform zum Glied des Ganzen gemacht und vollständig ausgerichtet wurde. Während die Regime in Italien, Deutschland und der Sowjetunion aber nur bis zur Einheitskleidung für die Organisationen von Partei und Staat vordrangen, wurde im revolutionären China der „Mao-Anzug“ als Normalkleidung für Mann und Frau eingeführt; eine Funktion, die er bis heute in Nordkorea erfüllt. Es geht weniger um Werte und Erziehung als um Zwang Von der äußeren Einheitlichkeit versprachen und versprechen sich solche Regime einen erzieherischen Effekt, der die Individuen dahingehend beeinflussen soll, daß sie ihre Einzelinteressen gegenüber Rasse, Nation, Gesellschaft, Klasse zurückzustellen lernen und auch Denken und Empfinden zur Einheit werden. Die Berechtigung solcher Erwartungen ist unbestreitbar und muß gar nicht mit einer extremen politischen Zielsetzung verbunden sein. Sie gilt auch im kleineren Maßstab. Es genügt eine gewisse Verstörtheit über sozialen Zerfall und Anomie, um die Möglichkeiten, die in der Uniformierung liegen, wiederzuentdecken. Das heißt, die gegenwärtige Debatte über Schuluniformen gehört weniger in den Zusammenhang der Erziehungskrise, der Integrationskrise oder der Wertekrise. Es geht vielmehr um den Rückgriff auf ein altes Disziplinierungsmittel, gegen das sich in „Zivilgesellschaften“ begründete Vorbehalte ent-wickelt hatten. Das darf man als Indiz für den Grad der Unruhe betrachten, der mittlerweile erreicht ist, angesichts der Konsequenzen einer seit Jahrzehnten forcierten Atomisierung und Fragmentierung der Gesellschaft, die eben noch als Buntheit und Pluralismus gefeiert wurde. Nachdem Überzeugung, Propaganda und Bestechung ihre Wirkung verfehlt haben, sieht man keine andere Möglichkeit als die Anwendung von Zwang. Vorerst handelt es sich nur um symbolischen Zwang.