Ein bißchen unheimlich wird einem bei der Lektüre einer Reportage im New Yorker (von Sasha Frere-Jones) über die sich häufenden Tourneen altgewordener Rock- und Popstars. Dabei kommt der Text gutgelaunt und munter daher. Es ist auch nicht so, daß die Konzerte keine Erfolge wären. Die Säle sind jeweils voll, die Beifallsstürme vorprogrammiert. Es scheint alles "wie in alten Tagen". Doch gerade das schürt das Unbehagen.
Die Protagonisten singen keine neuen Stücke, sondern "ihre alten, ruhmvollen Hits von früher", Hüftschwünge und wohlplazierte Zoten inklusive. Man kennt dergleichen aus unseren Fernsehgalas. Die Recken von anno dunnemals haben sich in der Regel gut gehalten, sind jetzt zwar weißhaarig und hier und da faltig, sonst jedoch gut in Form und eifrig bemüht, dies dem Publikum zu zeigen. Und das Publikum quittiert es mit Rührung und doppeltem Beifall. Alles ist, "als wäre die Zeit stehengeblieben".
Aber die Zeit ist natürlich nicht stehengeblieben, das wird einem aus der Distanz, also beim Lesen von Reportagen wie der von Frere-Jones, geradezu schneidend bewußt. Man fühlt sich wie in einem mechanisch bewegten Wachsfigurenkabinett. Sänger und Publikum wirken, als seien sie von cleveren Managern extra für einen Totentanz zurechtgeschminkt worden und als hätten diese ihnen irgendwelche chemischen Säfte eingespritzt, um sie in Bewegung zu bringen.
Die Kalamität rührt keineswegs daher, daß hier eine Art Klassentreffen stattfindet, eine Art Veteranenball mit den für solche Veranstaltungen typischen Verlegenheiten und Peinlichkeiten. Die Peinlichkeit potenziert sich bei den Alt-Rockkonzerten vielmehr, weil sie gerade kein simples Klassentreffen sein wollen, wo über gewachsene Bäuche oder Glatzen gutmütig gescherzt wird. Sie wollen die Zeit gewissermaßen besiegen – und zeigen dadurch ihre Niederlage um so greller vor.
Bei Klassentreffen und auf Veteranenbällen fragt man sich immerhin auch: "Was hast du aus dir gemacht? Wie geht’s deinen Kindern? Welche Krankheiten hast du dir zugezogen, welchen bist du glücklich entkommen?" Bei den Alt-Rockern gibt’s weder Kinder noch Krankheiten noch überhaupt erwachsene Taten und Abenteuer. Alles dreht sich immer nur um die Frühzeit, "als wir noch jung und revolutionär und erfolgreich waren". Praktiziert wird im Grunde nichts als Erinnerungskultur, freilich mehr Erinnerung als Kultur, ein infantiles Wühlen in längst vergangenen, quasi kindlichen Großtaten, die nicht fortsetzungsfähig waren, jedenfalls nicht von den Protagonisten selbst fortgesetzt werden konnten, weil sie dazu eben Kind, Jüngling, Jungrevoluzzer hätten bleiben müssen.
Sie wälzen sich nun wollüstig auf dem, was für ernsthafte Künstler eher ein Nagelbrett ist: nämlich ein Leben lang auf einen frühen Erfolg, den man hatte, als man noch gar nicht richtig "fertig" war, festgelegt und ständig an ihm gemessen zu werden. Goethe, dem das mit seinem "Werther" widerfuhr, hat außerordentlich darunter gelitten und faktisch alles getan, um den Roman später kleinzumachen bzw. möglichst wenig über ihn reden zu müssen. Ähnlich ging es Schiller mit den "Räubern", Thomas Mann mit den "Buddenbrooks", Günter Grass mit der "Blechtrommel". Keine dieser Koryphäen wollte oder will einzig mit einem riesenhaften Jugendknüller identifiziert werden. Und man kann das gut verstehen.
Werktätiges, erwachsenes Leben ist Arbeit und Mühe, auch und speziell bei Künstlern, ist scharfes Kalkulieren und planvolles Organisieren, ein ewiger Kampf mit dem Drachen. Gelungene Jugendwerke hingegen, sogenannte Genie-streiche, kommen oft ganz dämonisch-mühelos zustande, sie "fallen einem zu", sind spontane Äußerungen der bloßen, blanken Natur. Richard Katz, der große Reiseschriftsteller der zwanziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts, hat dafür einst ein interessantes Gleichnis gefunden, das es verdient, erinnert zu werden.
Katz erzählt von einem Jungen, dem der Omnibus davonfährt und der einen wahnsinnig-furiosen Sprint hinlegt, um das Gefährt doch noch zu erreichen. Ein Leichtathletik-Trainer hat die Szene zufällig beobachtet und den Spurt automatisch gestoppt – eine phantastische Zeit, Weltrekord! Er bietet dem Jungen an, ihn zu trainieren und in großen lukrativen Turnieren antreten zu lassen, und der Junge geht darauf ein. Er trainiert von da ab fleißig und mit allen Raffinessen, und er hat auch Erfolg, kommt auf gute Zeiten, gewinnt sogar Wettbewerbe – nur die damals beim spontanen Omnibus-Sprint gestoppte Zeit erreicht er nie, nie wieder.
"So ist es auch mir mit meinem Erstling und den übrigen Sachen ergangen", resümiert Katz melancholisch, "und ich bin weiß Gott nicht der einzige. Irgendwie ist das anstößig, und jeder gute Schriftsteller bäumt sich dagegen auf. Manche fangen an, ihren Jugendstreich richtig zu hassen, und sie tun alles, um ihn im reiferen Alter zu überbieten. Einigen ist das auch gelungen, und das ist gut so und tröstet die übrigen."
Konzertierenden Alt-Rockern mit jugendlichem Geniestreich sind solche Erfahrungen fremd. Selbst wenn sie genügend Geld im Kasten haben, finden sie nichts daran, bei öffentlichen Auftritten schamlos in die Larvenreste ihrer frühen Erfolge zu steigen und ungeniert zu demonstrieren, daß sie nichts dazugelernt haben. Sie liefern damit ein treffendes Abbild der modernen Spaßgesellschaft, die bekanntlich "forever young" bleiben will, bis der Tod an sie herantritt.
Kürzlich passierte es in London, daß ein kleiner Junge auf den flanierenden Paul McCartney zulief und schrie: "John Lennon, John Lennon, bitte, gib mir ein Autogramm!" McCartney erbleichte und stammelte: "Aber John Lennon ist doch längst tot." Für einen Augenblick hatte er der existentiellen Situation, in der er und seinesgleichen dümpeln, ins Auge sehen können. Es war kein beruhigender Anblick.