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Pankraz, Leopold von Ranke und die Kammerdiener

Pankraz, Leopold von Ranke und die Kammerdiener

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Cato, Palmer, Exklusiv

Für einen Kammerdiener gibt es keinen Helden", lautet ein altes Sprichwort. Hegel hat in der Einleitung zu seiner "Philosophie der Geschichte" hinzugesetzt: "Nicht aber darum, weil dieser kein Held, sondern weil jener der Kammerdiener ist." Und einige Sätze später klagt er: "Die geschichtlichen Personen, von solchen psychologischen Kammerdienern in der Geschichtsschreibung bedient, kommen schlecht weg. Sie werden von diesen ihren Kammerdienern nivelliert, auf gleiche Linie oder vielmehr ein paar Stufen unter die Moralität solcher feiner Menschenkenner gestellt."

Inzwischen gibt es in den historischen und literarischen Wissenschaften beinahe nur noch Kammerdiener. Die Kammerdiener-Perspektive ist zur einzigen von den Medien noch akzeptierten Forschungsrichtung geworden; jedes große Jubiläum, wie zur Zeit das Schiller-Jubiläum, bestätigt das. Kaum noch die großen Taten der Helden interessieren, lediglich die Art, wie sie sich im "Alltag" bewegten, was sie für kleine Schwächen und Schrullen hatten, ob sie dem Alkohol und dem Tabak zuneigten, ob sie fremdgingen oder schwul waren, ob sie ihre Kinder prügelten oder beim Kaufmann anschreiben ließen.

Auch die von Hegel monierte systematische Minderung der Heldenmoralität durch die "feinen Menschenkenner" hat sich bis ins Exzessive gesteigert. Die Jubiläumsobjekte werden in zahllosen Gedenkartikeln und Gedenkfilmen schlichtweg als potentielle Sünder vorgestellt, zumindest als Verdächtige, die man erkennungsdienstlich behandeln muß. In jedem Kammerdiener steckt offenbar ein Tatort-Kommissar, der sich seiner moralischen Korrektheit voll bewußt ist.

Neulich beim Sartre-Jubiläum ging es bei vielen Gedenkspezialisten weder um Sartres Philosophie noch um seine Literatur, vielmehr einzig darum, daß Sartre 1941 – wie man herausgefunden hatte und nun triumphierend herumerzählte – eine Stelle als Lyzeumsprofessor in Paris antrat, die vorher von einem zwangspensionierten jüdischen Herrn eingenommen worden war. "Hat Sartre von dieser Konstellation gewußt? Und wenn ja, was fällt dann für ein Licht auf seine Taten?" So sieht heute historische Forschung aus der Kammerdiener-Perspektive aus.

Kammerdiener klassischen Stils waren (und sind hoffentlich hier und da noch) Muster der Diskretion. Nicht so die Kammerdiener an den Universitäten und in den Redaktionen. Diese finden eine geradezu hämische Genugtuung darin, auch noch die allerunwesentlichsten Details der von ihnen behandelten Helden auszuplaudern (in ihrem Jargon: "freizulegen"), selbst dann, wenn sie ihrer Sache keineswegs hundertprozentig sicher sind.

Typisch der "Streit um Goethes letzte Worte". Lange glaubte man der u.a. von Eckermann bezeugten Version, der sterbende Dichter habe gesagt: "Mehr Licht!" Bis dann einer der forschenden Kammerdiener auf den Plan trat und behauptete: Nein, Goethe hat zuletzt nicht "Mehr Licht!" gesagt, Goethe hat in Wirklichkeit zu seinem Kammerdiener gesagt: "Friedrich, den Nachttopf!" Auf französisch hat er das gesagt, und dafür steht die moderne Wissenschaft, die sich, wenn nicht auf das Zeugnis des Kammerdieners Friedrich selbst, so immerhin auf ein intensives Hörensagen, das damals in Weimarer Kammerdienerkreisen verifizierbar umging, berufen kann.

Eckermann oder Weimarer Kammerdienergewäsch – bei solcher Alternative entscheidet sich der moderne Zeitgeist automatisch für das Gewäsch. Denn erstens besteht er, der Zeitgeist, selber aus Gewäsch, und gleich und gleich gesellt sich bekanntlich gern. Mit einem miesen Gewäsch, einem Gerücht, läßt sich allemal mehr anfangen als mit einer schönen klaren Aussage. Man kann mit ihm Politik machen, man kann sich mit seiner Hilfe die so beliebten Optionen offenhalten, man kann sich in seinem Zeichen zu Talkrunden versammeln. Nur das Gerücht, nicht die klare Aussage, ist ein Medienereignis.

Zweitens aber siegt "Friedrich, den Nachttopf!" schon deshalb über "Mehr Licht!", weil es gemein, läppisch und anal-bestimmt ist, aus den unteren Triebregionen stammt. Unten rangiert vor oben: das ist mittlerweile fast so etwas wie ein ehernes Gesetz in unserer demokratischen Wohlstandsgesellschaft. Denn unten ist die Masse, oben sind die wenigen. Unten geht es, was den Benimm und das Sich-am-Riemen-Reißen betrifft, sehr viel bequemer zu als oben, und wer möchte es nicht bequem haben in diesen schweren Zeiten? Was sollen da Wichtigtuereien wie "Mehr Licht"? Ist doch ohnehin alles Schwindel.

Drittens schließlich kommt die Nachttopf-Version nur allzu sehr jenem von Hegel so treffend registrierten Moraldünkel entgegen, den moderne Historiker gegenüber ihren, meist längst toten, einer fernen Vergangenheit entstammenden, Helden hegen. "Jede Epoche ist gleich nah zu Gott", dekretierte einst Leopold von Ranke, um seine Kollegen vor jeder hermeneutischen Überheblichkeit zu warnen. Doch wer glaubt in der Zunft denn wirklich noch an Gott?

Man glaubt an den "Fortschritt", an die Technik, an den heute erreichten Stand von Permissivität und "Anything goes". Und an diesen Kriterien gemessen erscheint eben jede historische Leistung, und sei sie die gewaltigste, als irgendwie abgetan, vorgestrig, nicht mehr ganz ernst zu nehmen, Nachttopf.

Das ist der eigentliche Skandal im Zeitalter der geschwätzigen Kammerdiener: Alle halten die gegenwärtige Lage, ob man sich darin nun auf der Licht- oder auf der Schattenseite befindet, für das Nonplusultra dessen, was die Menschheit überhaupt erreichen kann. Die Überheblichkeit gegenüber der Vergangenheit (wie übrigens zunehmend auch gegenüber der Zukunft) ist allgemein und faktisch schon unausrottbar. Deshalb, so glaubt man ja auch, brauchen wir keine Helden mehr. Aber wahrscheinlich täuscht man sich da.

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