Frechheit siegt. In England ist eine jener Riesenskulpturen abhanden gekommen, mit denen der Bildhauer Henry Moore (1898-1986) so berühmt geworden ist: "Reclining Figure", zu deutsch "Die Lehnende", dreieinhalb Meter hoch und zwei Tonnen schwer. Die Londoner Boulevardzeitung The Sun spricht vom unverschämtesten Kunstraub seit Napoleon.
Die drei Diebe, so haben es die Überwachungskameras festgehalten, seien mit einem Kranwagen direkt auf den Hof der Henry-Moore-Stiftung in Perry Green in der ostenglischen Grafschaft Hertfordshire gefahren, hätten die auf über vier Millionen Euro Auktionswert geschätzte Figur auf die Lade ihres Fahrzeugs gehievt – und ab durchs Hoftor auf Nimmerwiedersehen. Inzwischen hat die Polizei in der Nähe des Tatortes den Lastwagen und den Kran sichergestellt, von den Dieben fehlte bei Redaktionsschluß indes noch jede Spur. Für Hinweise zur Wiederbeschaffung der Bronzeskulptur hat die Henry-Moore-Stiftung eine hohe Belohnung ausgesetzt.
Vorerst jedenfalls müssen die Motive der Täter im dunkeln bleiben. "Das war kein Gelegenheitsdiebstahl", wird ein Chef-Ermittler zitiert. Doch wem nützt denn eine gestohlene Riesenplastik von Moore? Wer sich an Moore-Figuren "sattsehen" will, der braucht keinen Besitztitel, er braucht nur in bestimmte öffentliche Parks zu gehen. Fürs Wohnzimmer ist die Lehnende ohnehin viel zu schwer. Und im privaten Garten würde sie sofort entdeckt werden und die Polizei herbeilocken.
Ganz England (wenigstens das kunstinteressierte) fragt sich deshalb, was um Himmels willen die Diebe angetrieben hat. Waren sie vielleicht auf den Materialwert aus? Oder haßten sie etwa die moderne Kunst und speziell die Frauenfiguren von Moore mit ihren unerwarteten Öffnungen an den unerwartetsten Stellen? Veranstalten sie jetzt mit der Lehnenden eine wüste nächtliche Zerstörungsorgie?
Wie auch immer, eine Devise steht schon mal fest: Größe schützt vor Diebstahl nicht. Sonst wäre es nicht einmal Napoleon gelungen, einst die Quadriga vom Brandenburger Tor herunterzustehlen.