Daß Europa werde, setzt voraus, daß jede seiner Nationen ihre Geschichte umdenke; daß sie ihre Vergangenheit auf das Werden dieser großen Lebensgestalt hin verstehe. Welches Maß an Selbstüberwindung und Selbstvertiefung aber bedeutet das!“ Dies sagte der katholische Religionsphilosoph Romano Guardini, als ihm 1962 der Erasmus-Preis verliehen wurde. Zu dieser Zeit konnte der damals 77jährige Theologe, Philosoph, Pädagoge und Literaturinterpret auf ein von großer geistiger Frische gekennzeichnetes Lebenswerk verweisen. Der am 27. Juni 1885 in Verona geborene Guardini ist ein Musterfall einer gelungenen ethnischen Assimilierung auf hohem Niveau. 1886 übersiedelte sein Vater als Geschäftsmann nach Mainz. Volksschule, Gymnasium, Universitäten und der intensive Kontakt mit der deutschen Lebenswirklichkeit ließen Guardini tief in die deutsche Geisteswelt eindringen, so daß er 1955 rückblickend sagen konnte: „Ich fühlte mich innerlich dem deutschen Wesen zugehörig.“ Allerdings gab er die geistige Bindung an Italien nicht auf. Dies war möglich, weil er Europa als die Basis anerkannte, auf der er existieren konnte: „hineingewandt in das deutsche Wesen, aber in Treue festhaltend die erste Heimat“. Der 1910 zum Priester geweihte Guardini wurde ab 1920 zum großen Anreger der katholischen deutschen Jugendbewegung und reichte in diesem Wirken weit über den Bund „Quickborn“ und dessen Zentrum, die Burg Rothenfels, hinaus. Wenn heute junge Menschen zu Guardinis „Briefen über Selbstbildung“ greifen (Urfassung 1924), können sie wertvolle Hinweise für eine sinnerfüllte Lebensgestaltung gewinnen. 1923 wurde Guardini auf den eigens geschaffenen Lehrstuhl für Katholische Religionsphilosophie und Weltanschauung an der Universität Berlin berufen. Hier und in sonntäglichen Studentenpredigten deutete er seine Zeit, die in den zwanziger Jahren einen geistigen Aufbruch des deutschen Katholizismus erlebte. Zum Dritten Reich verhielt sich Guardini – bei aller Ablehnung des Nationalsozialismus – als deutscher Staatsbürger und Beamter loyal. Trotzdem wurde er von der Gestapo bespitzelte, 1939 verlor er seinen Lehrstuhl. Nach 1945 lehrte Guardini in Tübingen, ab 1948 in München und fand mit seinen Vorträgen und Publikationen Beachtung auch bei vielen Nichtchristen. „Sorge um den Menschen“, so lautete 1962 der Titel eines Sammelbandes, in dem der Gelehrte (wie auch in manchen anderen Veröffentlichungen) die Existenzbedingungen des Menschen im Atomzeitalter ausleuchtete. Als Theologe befaßte Guardini sich besonders eindringlich mit Fragen der Liturgie. Wer heutzutage die vielerorts eingetretene Verödung und Banalisierung der römisch-katholischen Liturgie beklagt, kann bei Guardini einen vertieften Zugang zu heiligen Zeichen und Handlungen finden. Wer sich über die thematische Vielfalt dieses Gelehrten informieren möchte, greife zu dem Guardini-Lesebuch, das Ingeborg Klimmer unter dem Titel „Angefochtene Zuversicht“ 1985 herausgegeben hat. Guardini hat einmal dafür plädiert, daß in der Bildung der Deutschen die Antike so erfaßt werde, „daß man sie dann im eigenen Werk nirgendwo als Fremdkörper nachweisen kann, sondern daß sie nur eine gewisse Klarheit, eine gewisse Freiheit im eigenen Wesen, eine gelöste Leichtigkeit gerade in der eigenen Art bewirkt“. Bei Guardini läßt sich dies gut nachweisen. Romano Guardini (Auswahl): Wurzeln eines großen Lebenswerks. Aufsätze und kleine Schriften; Briefe über Selbstbildung; Das Gebet des Herrn; Gottes Angesicht suchen; Hölderlin. Weltbild und Frömmigkeit (alle Matthias-Grünwald- Verlag, Mainz)