Um historische Größe gerecht abschätzen zu können, braucht man Abstand. Ist der zeitliche Abstand zu Axel Springer (1912-1985), dem legendären Verleger und Erfinder der Bild-Zeitung, schon groß genug? Sein zwanzigster Todestag am 22. September liefert zumindest Gelegenheit, den Nebel, den „der Parteien Gunst und Haß“ um diese bemerkenswerte Figur der neueren deutschen Geschichte gelegt hat, aufzuhellen, vielleicht sogar zu durchstoßen. Claus Jacobis soeben erschienene „Biographie aus der Nähe“ im Herbig-Verlag hebt viele bisher unbekannte Details ans Licht, nicht nur solche mit human touch und Klatschtauglichkeit. Hans B. von Sothens Studie über Springers Mentor und Weggefährten Hans Zehrer (in dem Band „Die kupierte Alternative. Konservatismus in Deutschland nach 1945“ bei Duncker & Humblot) erleichtert politische Einordnung und Würdigung. Eine umfassende Studie über Springers Leben und Werk aus der Feder des Bonner Historikers und Adenauer-Biographen Hans-Peter Schwarz steht ins Haus. Interessante Einblicke gewährt auch die im Frühjahr bei Hoffmann und Campe herausgekommene Biographie Friede Springers von Inge Kloepfer. Die letzte Frau des Verlegers und derzeitige Mehrheitseignerin seines Unternehmens beansprucht, seine Ideen und Intentionen treulich bewahrt und teilweise sogar erst in die verlegerische Realität umgesetzt zu haben. Inwieweit dies der Wirklichkeit entspricht, dürfte ein wichtiges Thema kommender Publizistik-Forschung werden. Was dem Leser der neuen Bücher zur Causa Springer sogleich ins Auge sticht, ist die ungeheure Modernität und Zeitgenossenschaft, die diesen Verleger und Zeitungsmann von Anfang an umwehten. Kein anderer Vertreter der Aufbaugeneration nach 1945 verkörperte besser als er den Geist der „frühen Jahre“, jenen unbedingten Willen zum Aufrappeln und Anpacken jenseits aller Wehleidigkeit, jenen hypergenauen Blick für den schier grenzenlosen Spielraum freien Wirtschaftens und Publizierens, gepaart mit feinstem Wissen um neue technische Möglichkeiten und Errungenschaften. Vergünstigungen weit über dem festgelegten Niveau Sofort auffällig auch Springers Sinn für Teamgeist und sozialen Zusammenhalt. An ihm, der an sich viel Neigung zu angelsächsischem Lebensstil hatte, war nicht die Spur von Ausbeuterei und „Manchestertum“, seine Redaktionen und Druckereien gewährten wie selbstverständlich Mitarbeiter-Vergünstigungen weit über das anderswo gewerkschaftlich „erstrittene“, staatlich festgelegte Niveau hinaus. „Bei Axeln“ zu arbeiten, war gerade für „einfache Arbeiter“ stets Privileg und Auszeichnung zugleich. Dabei dachte Springer nicht im mindesten an Gleichmacherei und soziale Einebnung. Jeder Mensch war seinen Gaben und Anlagen nach verschieden wie die Blätter an einem Baum, das hatte er bei Leibniz gelernt, und danach handelte er. Besondere Leistungen wurden dankbar und großzügig prämiert, und die Prämien wurden jeweils mit größtem Charme und Takt an den Mann gebracht. Axel Springer war ein Genie der Freundschaft, und etwas von diesem Genie lebte noch in der kleinsten Zuwendung gegenüber Mitarbeitern oder Geschäftspartnern. Politisch war Springer tief von Hans Zehrer geprägt, dem väterlichen Freund aus Sylter Widerstandstagen im Dritten Reich. Die beiden hatten recht genaue Vorstellungen über die Konturen eines zu erstrebenden Nachkriegsdeutschlands. Einig und frei sollte es sein, ein Bollwerk des Friedens, ehrlich um Wiedergutmachung und Versöhnung bemüht, sich aus jeglicher Blockbildung heraushaltend, die Ideen der differierenden Polit- und Sozialsysteme selbständig abwägend und bedachtsam für sich nutzend. Aus solchem Konzept erwuchs die politische Linie der Springer-Blätter in den frühen Jahren, das Streben nach Blockfreiheit, die entschiedene Ablehnung jeglichen „rheinischen Separatismus“, auch wenn dieser nur eingebildet sein mochte. Nach dem Tod von Stalin und dem von Chruschtschow verkündeten „Tauwetter“ schien die Stunde gekommen, einen allseits akzeptablen Deal mit den Bolschewiken einzuleiten: deutsche Neutralität für Wiedervereinigung, politische Unterstützung deutscher Anliegen seitens der Russen für intensive wirtschaftliche Unterstützung der Russen seitens der Deutschen. Springer und Zehrer, mittlerweile als Teilnehmer an der großen Politik weithin anerkannt und akzeptiert, reisten nach Moskau, um mit Chruschtschow zu sprechen und den Deal anzustoßen. Diese Episode deutscher Politik ist bis heute noch nicht ausreichend erforscht; die Arbeit von Schwarz mag genauere Auskünfte darüber erbringen. Chruschtschow und das Politbüro verhöhnten Springer und sein Anliegen, faselten vom „unabwendbaren Sieg des Sozialismus/Kommunimus“ und kündigten an, demnächst den Westen insgesamt zu „beerdigen“ und damit auch die deutsche Frage auf ihre Art zu „lösen“. Bald danach wurde dann quer durch Berlin und Deutschland die Mauer errichtet, ein Mord- und Menschenjagd-Regime fing an zu wüten, wie es sich kaum jemand hatte vorstellen können. Wiedervereinigung wurde ständig angemahnt Springer war tief schockiert und mußte erkennen, daß Adenauer mit seiner Einschätzung des Bolschewismus recht hatte. Gleichzeitig hatte er in Moskau, mit der Präzision seines wirtschaftlichen Instinkts, sehr genau wahrgenommen, daß dieser ganze Sozialismus/Kommunismus auf Sand gebaut war, wider die menschliche Natur und somit früher oder später zum Untergang verurteilt. Begegnungen mit den ersten damals hervortretenden russischen Dissidenten bekräftigten ihn in seiner Überzeugung und verschafften ihm zudem genaue Einblicke in die abgrundtiefe Freiheitsfeindlichkeit und Inhumanität des sowjetischen Projekts, selbst fern von Mauer und Selbstschußanlagen. Es zog nun der Geist des Skeptizismus und der Widerständigkeit gegen jederlei sozialistische Projektemacherei in die Springer-Blätter ein. Das Verfassungsgebot der Wiedervereinigung wurde mit höchster Energie verteidigt, in Erinnerung gehalten, bei der Politik unermüdlich angemahnt. Analysierer der sowjetischen Szene, Dissidenten aus Rußland, Ostmitteleuropa und aus der DDR erhielten ausführlich Äußerungsmöglichkeiten und geistige Unterstützung. Und bald kam eine „zweite Front“ hinzu, als nämlich die aus Maos China und aus Kalifornien herüberschwappende sogenannte „Kulturrevolution“ buchstäblich alle Werte und Institutionen der bürgerlichen Gesellschaft zu verhöhnen begann, sie in aggressivster Weise attackierte, sie alsbald mit nacktem Terror überzog. Axel Springer, der Unternehmer, Politiker und Menschenfreund, war gegen diese Bewegung. Er sah sie – völlig richtig – lediglich als die andere Seite jenes kommunistischen Staats-Imperialismus, dessen er in Moskau ansichtig geworden war und der ihm bei jedem Blick aus den Fenstern seines Berliner Verlagsgebäudes direkt an der Mauer tagtäglich vor Augen lag. Springer wehrte sich (Zehrer war leider schon 1966 verstorben), und die Reaktion der Gegenseite blieb nicht aus. Der Verleger und sein Haus wurden zum Hauptzielpunkt vereinigter schwerster Angriffe von Staatskommunisten, 68-„Revolutionären“ und bald auch starken Kräften aus der etablierten Bonner Politik. Ein richtiger Hexensabbat begann. Die Biographie von Jacobi und auch das Buch von Kloepfer über Friede Springer geben anschaulich darüber Auskunft. Man bekommt, aus vielerlei Perspektiven, einen guten Überblick über die Vorgänge, über die Bombenanschläge, die Brandstiftungen, die Boykottmaßnahmen und die unverhohlene Mordhetze gegen den Verleger, auch über die Feigheit so mancher „Freunde“ angesichts der Drohungen, über die unverhohlene Schadenfreude bei der linksliberalen Medienkonkurrenz in Spiegel, Zeit und Stern, über geradezu schwachsinnige Anti-Springer-Statements von hochangesehenen Politikern und Großintellektuellen, die oft auch noch heute in Blüte stehen, ihre Rhetorik freilich um volle 180 Grad gedreht haben. Springer war vom Habitus her kein „Kämpfer“, eher eine weiche, elegante, zu freundlicher Kommunikation gestimmte Natur. Er wollte geliebt werden und litt ganz außerordentlich unter den Morddrohungen und Anschlägen und dem notwendig gewordenen Leibwächter-Regime. Die geschäftlichen Verluste, die sein Unternehmen infolge der Boykottmaßnahmen erlitt, waren beträchtlich. Um so respektabler und ehrenvoller, daß er bis an sein Lebensende an seinen Überzeugungen und im großen und ganzen auch an seiner Geschäftspolitik festhielt. Leider hat ihm das Schicksal verwehrt, Wiedervereinigung und Untergang des Zwangsregimes zu erleben. Er war wie Moses, er sah das gelobte Land, hat es aber nicht betreten. Vaterländisches kann man heute mit der Lupe suchen Daß er sein Unternehmen gegen Ende, müde geworden, ohne ebenbürtige direkte Erben (und schlecht beraten von Deutsche-Bank-Chef Friedrich Wilhelm Christians), in eine Aktiengesellschaft umwandelte, war ein Fehler, welcher das Haus Springer mittlerweile bis an den Rand des Identitätsverlustes geführt hat. Die Besitzerin der Aktienmehrheit, Witwe Friede Springer, die alle Springer-Kinder und -Enkel auszuzahlen vermochte, ist tief verschuldet und schon fast unentwindbar in der Hand der Banken und internationaler Anlegerfonds. Und ihr Ziehsohn und Vorstandschef Mathias Döpfner befördert eine Politik, die quer zu den, wenn nicht frontal gegen die einstigen Intentionen Axel Springers und Hans Zehrers steht. Als zielgebende Großideologie herrscht unter Döpfner ein geradezu blindwütiger, ganz und gar an angelsächsischen Vorbildern orientierter sogenannter „Neo-Liberalismus“, dem alles andere untergeordnet wird. Die vaterländische Komponente, das Eintreten für speziell deutsche Interessen und Traditionen, kann man mit der Lupe suchen. In den theoretisierenden Organen des Hauses, Welt und Welt am Sonntag, machen sich linke Anti-Springer-Veteranen von anno dunnemals breit, Hellmuth Karasek, Fritz J. Raddatz, der Liedermacher Wolf Biermann, von denen einige den Verleger noch nachträglich beschimpfen; damit will die Geschäftsleitung zeigen, wie „liberal“ sie inzwischen geworden ist. Die populäre Bild-Zeitung, an deren gelegentlichen Eskapaden der Verleger nach überlieferter Auskunft einst selbst „wie ein Hund litt“, hat inzwischen – der allgemeinen Entwicklung der Medien entsprechend – nicht nur einen dramatischen Auflagenverlust, sondern einen noch dramatischeren Niveauverlust erlitten. Anstelle des früheren Kolumnisten-Stars Hans Zehrer („Hans im Bild“) waltet nun der Kolumnisten-Wiedehopf Franz-Josef Wagner seines Amtes, und das ist ungefähr so, als sei eine Gartenlaube durch eine Jauchegrube ersetzt worden. Sic transit gloria mundi. Zu deutsch: Auch so kann jemand herunterkommen. Was freilich am trübseligsten stimmt, sind die immer häufiger werdenden Versuche des Hauses, sich von der eigenen Geschichte partiell zu distanzieren, Axel Springers geistiges Erbe und speziell seinen Widerstand gegen die „Kulturrevolution“ nachträglich zu desavouieren und zu „bedauern“. Am spektakulärsten in diesem Zusammenhang ist wohl eine Erklärung des kürzlich verstorbenen langjährigen Chefs der Bild-Zeitung, Peter Boenisch, der sich in Bild bei den herrschenden Achtundsechzigern regelrecht dafür entschuldigte, daß man sie damals, zu Axel Springers Zeiten, so harsch kritisiert habe. Auf beiden Seiten seien „Fehler gemacht“ worden. Wie schrieb einst der Jahrhundertdichter Ernst Jünger? „Wer sich selbst interpretiert, geht unter sein Niveau.“ Dem wäre kaum etwas hinzuzufügen, allenfalls dies: Wer kein Niveau mehr hat, der kann auch nicht daruntergehen. Er kann nur noch in sich gehen. Foto: Axel Cäsar Springer (1912-1985), aufgenommen 1954: Hauptzielpunkt schwerster Angriffe Foto: Autor Hans Zehrer, Redaktionssitzung mit Springer in Kampen auf Sylt: Streben nach Blockfreiheit Claus Jacobi: Der Verleger Axel Springer. Eine Biographie aus der Nähe. Herbig Verlag, München 2005, gebunden, 352 Seiten, 24 Euro Hans B. von Sothen: Hans Zehrer als politischer Publizist nach 1945, in: Frank-Lothar Kroll (Hrsg.): Die kupierte Alternative. Konservatismus in Deutschland nach 1945. Duncker & Humblot, Berlin 2005, kartoniert, 347 Seiten, 78 Euro Inge Kloepfer: Friede Springer. Die Biographie. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2005, gebunden, 320 Seiten, 22 Euro Prof. Dr. Günter Zehm arbeitete von 1963 bis 1989 im Axel Springer Verlag als Kulturredakteur, Chef des Feuilletons und seit 1977 als stellvertretender Chefredakteur der Tageszeitung „Die Welt“.