Im Handbuch der Nationalen Volksarmee der DDR, 1980, 9. Auflage, heißt es: „Als Bestandteil der Gesamtpolitik der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands dient die Militärpolitik der Sicherung und Verwirklichung grundlegender Interessen der Arbeiterklasse und aller Werktätigen der Deutschen Demokratischen Republik mit militärischen Mitteln.“ Militärisch war die NVA eine Hilfstruppe der sowjetischen Armee. Wichtiger war sie als Instrument der Innenpolitik zur Erfassung, Ab- und Zurichtung der jungen Männer des Landes, auf längere Sicht der Hälfte der Bevölkerung. Sie war die spezielle Abteilung eines größeren Kerkersystems, der niemand entgehen konnte. Von den sadistischen Ritualen, die die älteren Jahrgänge gegenüber den jüngeren verhängten, wurde mal fatalistisch, mal genüßlich berichtet, ebenso von Todesfällen und Selbstmorden. Die rigide praktizierte Wehrpflicht senkte das Abhängigkeitsverhältnis gegenüber dem Staat unauslöschlich in die Psyche und Physis ein. Weil die Aggressionen, die dieser Eingriff auslöste, nicht gegen die Institution gerichtet werden konnte – das hätte den Druck weiter verstärkt -, wurden sie gegen mitbetroffene Schwächere geleitet. So duplizierte sich die Unterdrückung durch den Staat im Verhältnis der Unterdrückten, was das System zusätzlich stabilisierte. Der Arbeiter-und-Bauern-Staat gab zu erkennen, daß die physische Übermacht den Kern seines Machtverständnisses bildete. Eben deswegen waren Abiturienten in der DDR, zumal wenn sie Filet-Studiengänge belegen wollten, angehalten, ihre Dienstzeit auf drei Jahre zu verdoppeln – im Unterschied zu den meisten „Bruderländern“, wo sich für Studenten die Armeezeit reduzierte. In der DDR konnte das unmöglich thematisiert werden. Als Jürgen Fuchs 1984 seinen NVA-Roman „Fassonschnitt“ veröffentlichte, war er längst im Westen. Wolfgang de Bruyns Tagebuchroman „Rosenhof“ (1991) beschreibt die Armeezeit als persönliche Krankengeschichte, blieb aber ohne Resonanz. Jetzt haben das Erfolgsduo Leander Haußmann (Regie) und Thomas Brussig (Drehbuch) versucht, mit dem Film „NVA“ an den Erfolg der „Sonnenallee“ ankzunüpfen. Herausgekommen ist eine Klamotte über Rekruten, die Ende 1988 in die Fidel-Castro-Kaserne einrücken. Der Hauptfeldwebel heißt Futterknecht, Oberst Kalt ist Regimentskommandeur und Hauptmann Stummel zuständig für die politische Aufklärung. Stummel, der kalte Krieger, ist auch ein warmer Bruder und trägt unter der Uniform Leopardentanga. In Physiognomie, Gestik und Mimik erinnert er so sehr an Friedrich Merz, daß man unmöglich an Zufall glauben kann. Der Schleimer unter den Soldaten, der sich zur Strafe im Küchenherd selber garkocht und danach als Mumie umgeht, heißt Stadlmair, wie jener FAZ-Theaterkritiker, der stets fiese Kommentare über Künstler aus der Ex-DDR verfaßt. Ach ja, die Panzerfaust wird – in Anwesenheit einer Frau! – ein „langes, dickes Rohr“ genannt. Damit sind der Humor des Films und seine Bedeutungsebenen ungefähr beschrieben. Am Schluß kommt es zwischen dem niedlichen Filmhelden Hendrik (Kim Frank) und der Tochter des Obristen zur Liebe auf dem Wachturm, der 9. November 1989 bricht an, die Soldaten entlaufen in die Freiheit … Der Regisseur wollte sich der eigenen, qualvollen Armeezeit mit Humor erinnern. Humor bedeutet Abstand, Überlegenheit, kritisch-wohlwollende Nachsicht gegenüber den Unzulänglichkeiten des Lebens und schließt Selbstkritik ein. Doch der Humor zündet nicht richtig, auch weil es ihm an Plausibilität fehlt. Ein kleines Beispiel, das die große Fehlkonstuktion illustriert: Kein früherer DDR-Soldat, aber auch kein „Wessi“, der jemals die manischen Sicherheitskontrollen durch DDR-Grenzer erlebt hat, nimmt dem Film das Chaos in der Waffenkammer, die ungeklärte Absenz von MPis und Munition ab. Denn Waffen, die möglicherweise in falsche Hände gerieten, hätten das Selbstverständnis des DDR-Staates ins Mark getroffen. Dieser vordergründige Humor zielt nicht auf Katharsis oder auf die Entstellung realer Absurditäten bis zur Kenntlichkeit, sondern auf das Schenkelklatschen des Publikums, das sich eben deswegen verschaukelt vorkommen muß. Es ist ermüdend, die DDR-Vergangenheit permanent als Abfolge lustiger Zirkusnummern vorgeführt zu bekommen. Natülich war sie kein monolithischer schwarzer Block, das war nicht einmal die NVA. Man erlebte dort Denunziationen, die einen ums Haar den Studienplatz gekostet hätten, man schloß aber auch Freundschaften fürs Leben. Ein Beispiel aus eigenem Erleben: Mir ist unvergeßlich, wie mein Zugführer, ein Leutnant, der angestrengt, aber vergeblich mit Fremdwörtern und der Grammatik rang, mich eines Tages beiseite nahm und mir verlegen zuraunte, ob ich etwas für mich behalten könne. Ich sollte für ihn die Beurteilungen über die Soldaten des Zugs verfassen und seinen Schreibkram für den Kompanie- und Regimentschef korrigieren. Dafür durfte ich ungestört in seinem Dienstzimmer sitzen, Musik hören und blieb zwei, drei Mal von Küchendiensten und Geländeübungen verschont. Solche Erfahrungen machen die NVA und die DDR nicht besser, zeigen aber, daß unterhalb der institutionellen auch Ebenen sozialen Handelns existierten, auf denen sich, und zwar gegen die Intentionen des Systems, Freiräume eröffnen konnten. Andererseits gab es dieses sinnlose Dehnen von leerer Zeit. Am qualvollsten war es an den Wochenenden und Feiertagen, zumal die Aufklärungsberichte, die in der Nachrichtenzentrale des Kommandos Volksmarine eingingen, referierten, daß die Bundeswehrkasernen leergeräumt waren und ein Angriff nicht zu erwarten war. Trotzdem herrschten in den NVA-Kasernen „erhöhte Gefechtsbereitschaft“ und Ausgangssperren. Wir lungerten herum, gingen uns gegenseitig auf die Nerven, absolvierten wie im Trance 24-Stunden-Dienste und bekämpften die Müdigkeit mit fadem Ostkaffee. Das Wasser wurde verbotenerweise mit Reisetauchsiedern gekocht, die nicht ganz dem TüV-Standard entsprachen. Eines Tages bekam ein harmloser, netter Junge aus dem Nebenzimmer einen Stromschlag, an dem er starb. Könnte es sein, daß die DDR-Vergangenheit in den ästhetischen Kategorien des Humors und der Komik nicht aufgeht, daß sie auch tragisch grundiert ist und man dafür endlich narrative Strukturen finden muß? Dagegen wird argumentiert, der Osten müsse, damit seine Erzählungen keine Binnenangelegenheit bleiben, sich der poppigen Erzählweise des Westens anpassen. Das ist nichts weiter als ein gesamtdeutscher Nihilismus, der übrigens im Film widerlegt wird. Detlef Buck – ein 1962 geborener „Wessi“ – spielt den unsympathischen, zwischen Autoritarismus und Verklemmtheit schwankenden Oberst Kalt derart differenziert, daß aus der karikaturistischen Vorlage eine beinahe tragische Figur wird, der man am Ende abnimmt, daß sie mit ihrem Leben ursprünglich etwas Besseres vorhatte. Das wahre Problem des deutschen Films – und der deutschen Gesellschaft überhaupt – ist kein Ost-West-Konflikt, sondern die Furcht, den Schritt aus der Infantilität ins Erwachsenenleben zu wagen. Foto: NVA-Grundausbildung: Die rigide praktizierte Wehrpflicht senkte die Abhängigkeit gegenüber dem Staat unauslöschlich in Psyche und Physis ein
- Deutschland