Zu den zweifelhaften Argumenten, die für einen EU-Beitritt der Türkei ins Feld geführt werden, gehört der Verweis auf die angeblich schon vierzigjährige Verlobungszeit. Jeder anatolische Bauer kennt inzwischen den Namen des deutschen Außenpolitikers Walter Hallstein, der bei der Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens mit Ankara verkündete, das Land am Bosporus gehöre zu Europa. Den historischen Beginn der Verlobungszeit datieren Beitrittsbetreiber somit auf das Jahr 1963. Damals hatte die Türkei allerdings nur rund 30 Millionen Einwohner. Heute sind es mehr als 70 Millionen, und in zwei Jahrezehnten werden es etwa 90 Millionen sein. Einmal angenommen, ein Mann verlobt sich mit einer schlanken jungen Dame, die 60 Kilogramm wiegt. Nach langen Jahren des Hinhaltens und Hinauszögerns wird sie ungeduldig. Sie fordert die Eheschließung, bringt jedoch zu diesem Zeitpunkt schon fast drei Zentner auf die Waage. Der Gewichtszunahme scheinen keine Grenzen gesetzt. Wird der Herr sich an sein Wort gebunden fühlen und sich von der Dame erdrücken lassen? Ist es nicht besser, beizeiten die Verbindung zu lösen, als zähneknirschend eine absehbar schreckliche Ehe einzugehen? Im Beziehungsdrama zwischen der Türkei und Europa wird nicht mit offenen Karten gespielt. Abwechselnd jagen Ängste und Hoffnungen die Beteiligten, alle hegen Hintergedanken. Auf türkischer Seite scheinen aber mehr Realismus und Geschichtssinn zu herrschen als auf der europäischen Seite, die sich in multikulturellen Schaumträumen einer Aussöhnung von Islam und westlicher Demokratie ergeht. Ankara vermag virtuos auf der Klaviatur westlicher Schuldgefühle zu spielen. Osmanisches Expansionsstreben deutet man dort in Liebeswerben um. So sehr habe sich die Türkei stets um eine Annäherung an Europa bemüht, tönt Premierminister Recep Tayyip Erdogan in geschickter Verdrehung der Tatsachen. Ein zehnmonatiger Gefängnisaufenthalt wegen des Verlesens eines religiösen Hetzgedichts gab Erdogan Zeit zum Nachdenken: Der direkte Weg zur Re-Islamisierung der Türkei scheint nicht gangbar. Dem stehen die strengen Wächter des Militärs entgegen, die Hüter des Erbes Mustafa Kemals. Mit Atatürks autoritärer Modernisierung wurden die Osmanen entmachtet und begann die Zurückdrängung atavistischer religiöser Praktiken. Erdogan dagegen probt nun die langsame Befreiung des gefesselten Islams in der Türkei. Er wählt dafür den Umweg über Brüssel. Der türkische Ministerpräsident verfolgt eine meisterhafte Doppelstrategie. Europäisierung und Re-Islamisierung sind dabei untrennbar verbunden. Vorgeblich geht es Erdogan um die konsequente Erfüllung westlicher Standards. Dies erfordert die Entmachtung des türkischen Militärs – Brüssel will es so. Damit kann sich die Religion des Propheten Mohammeds als politischer Faktor kraftvoll neu entfalten. Die Verständigungsschwierigkeiten zwischen Europa und Ankara betreffen das vieldeutige Ideal des „säkularen Staates“. Versteht man darunter einen religiös neutralen Staat, der sich aus Bekenntnisfragen heraushält, aber der freien Äußerung der Religion keine Steine in den Weg legt? Oder meint man den religionsfeindlichen Staat, der die Kirchen bekämpft und die Religion überwinden möchte? Seit Kemal Atatürk (1881-1938) pflegt die Türkei ein ambivalentes Verhältnis zum Islam. Der nationalistische Diktator ließ Imame an Istanbuls Brücken aufhängen. Gleichzeitig aber wurde 1923 ein regierungsamtliches Präsidium für Religionsangelegenheiten (Diyanet) eingerichtet, da sich Traditionen islamischer Frömmigkeit nicht kurzfristig austreiben ließen. Mit heute fast 100.000 Mitarbeitern und einem Millionenetat überwacht und kanalisiert es die Entwicklung des sunnitischen Mehrheitsislams. Ihm obliegt die Ausbildung der Imame (auch die Mehrheit der nach Deutschland gesendeten muslimischen Geistlichen steht im Solde des Ditib, des verlängerten Arms der Behörde in Deutschland). Selbst die Organisation der Massenpilgerfahrten nach Mekka liegt beim Diyanet. Die Demokratisierung der Türkei ermöglicht paradoxerweise deren Re-Islamisierung. Parallel zur Entmachtung des Militärs hat Erdogan bezeichnenderweise Initiativen zur Aufwertung der Religion im öffentlichen Leben gestartet. Das Verbot von Kopftüchern an staatlichen Universitäten soll fallen. Koranschulen, deren Spezialität das stupide Auswendiglernen der Offenbarung des Propheten ist, sollen ganzjährig betrieben werden. Die Abschlüsse der Imam-Hatip-Oberschulen, die Erdogan einst selbst besuchte, sollen zum Universitätsstudium berechtigen. Private religiöse Schulen sollten Subventionen erhalten. Für das Diyanet wünscht Erdogan eine Aufstockung um 15.000 Mitarbeiter. Bislang wurden diese Vorstöße mit Rücksicht auf das Militär zurückgestellt. Sobald aber die Türkei vollständig „demokratisch“ ist, kann sich der islamische Druck besonders aus den ländlichen Gebieten entladen. So befreit Ministerpräsident Erdogan die religiöse Unterströmung, die schon seinen politischen Ziehvater Necmettin Erbakan vor acht Jahren an die Macht spülte, dann jedoch von den Generalen gebändigt wurde. Europa steht damit vor einem merkwürdigen Dilemma: Einerseits wünscht es eine demokratische Türkei, doch vieles deutet darauf hin, daß diese islamistische Züge tragen würde. Die „Verlobung“ von 1963 fand in gegenseitiger Unkenntnis statt. Deutschlands rot-grüne Machtelite hält jedoch eisern an Europas „altem Versprechen“ fest. Weder das türkische Bevölkerungswachstum, noch die unübersehbaren Tendenzen der Re-Islamisierung lassen sie zweifeln. Kulturelle Selbstaufgabe wird als Aufbruch zu neuen Ufern gepriesen. Über die tieferen Hintergründe von Erdogans Drängen läßt sie sich täuschen.