Seit über vierzig Jahren hält Gore Vidal seinem Land – hier als „vergeßliche Nation“ (oder, wie es im Original ungleich plakativer heißt, „United States of Amnesia“) tituliert – in Theaterstücken, Drehbüchern, Rundfunk- und Fernsehbeiträgen und historischen Romanen wie „Washington, D. C.“ (1967), „Burr“ (1983), „Lincoln“ (1984) oder „Empire“ (1987) einen Spiegel vor, aus dem die Fratze politischer Korruption, Macht- und Raffgier herauslugt. Der Großteil der in diesem Band gesammelten Essays zum unverändert schlimmen Zustand der Nation erschien schon in den achtziger und neunziger Jahren in der renommierten linksliberalen Zeitschrift The Nation und wurde mittels knapper Fußnoten aktualisiert. Zusammen ergeben sie eine über hundertseitige Tirade, einen im Doppelsinn erschöpfenden Rundumschlag. Während die älteren Texte heißen Herzens, aber kühlen Kopfes geschrieben scheinen, fällt es dem heute 79jährigen sichtlich schwerer, seinen Haß auf die Herrschenden lange genug zu zügeln, um einen klaren Gedankengang zu Papier zu bringen. Der einen oder anderen prägnanten Analyse, die im Vidalschen Donnerwetter aufblitzt („Sozialismus für die Reichen und freies Unternehmertum für die Armen“), wäre eine Erläuterung besser bekommen als die zigfache Wiederholung. So vergeßlich kann keine Nation sein, daß sie solch penetranter Ermahnung bedürfte – möchte man hoffen, um sich dann doch von Vidal eines schlechteren belehren zu lassen. Dabei beschränkt er sich nicht auf George W. Bushs Kriegslügen, sondern spießt auch das auf, was eine amerikanische Regierung nach der anderen ihren Bürgern zynisch als Umwelt- und Sozialpolitik darbietet. Wie ein Michael Moore für Erwachsene skizziert Vidal die Entwicklung von der Republik – bei der freilich von jeher ein „Augenzwinkern“ angebracht sei – über das Imperium zum Garnisonsstaat oder „Homeland“; letzteres ein Begriff, den er von dem 2002 erlassenen Heimatschutzgesetz (Homeland Security Act) ableitet und die Übersetzer sich offenbar ins Deutsche zu übertragen scheuten. Angesichts der nicht erst seit Samuel P. Huntingtons neuestem Erguß über die bedrohte angelsächsisch-protestantische „nationale Identität“ des klassischen Einwanderungslandes USA, „Who we are“ (JF 13/04), ausgebrochenen Paranoia ist man ihm dankbar für trockene Einwürfe wie den folgenden: „Noch heute bezeichnen die Mexikaner unsere südwestlichen Staaten (…) als ‚besetztes Land‘; vernünftygerweise haben die Hispanics jedoch mittlerweile damit begonnen, sich hier wieder anzusiedeln.“ Daß er die Sowjetunion stets für einen bloßen Popanz hielt, den amerikanische Falken nach dem Zweiten Weltkrieg aufbauten, um ihre Rüstungshaushalte zu rechtfertigen, dürfte hingegen gerade bei hiesigen Lesern auf Irritationen stoßen. Vidal ist ein glühender Verfechter der Bill of Rights, die von Anfang an nur ein ungeliebtes Anhängsel der Verfassung mit ihrem „betont juristischen Charakter“ gewesen und mittlerweile weitgehend außer Kraft gesetzt sei; „wie eine verwelkte Trompetenblume“ ranke sie sich nun „um unsere pseudorömischen Säulen“ – die Metaphorik ist peinlich, die Intention löblich. Weitaus eloquenter heißt es in den schon 1990 entstandenen „Anmerkungen zu unserem patriarchalischen Staat“: „Die berühmten Kontrollmechanismen und Gegengewichte in der Verfassung wurden so gestaltet, daß niemand König werden kann und das Volk in seiner Gesamtheit nichts zu vermelden hat. Deshalb kann im Unterschied zu den meisten anderen Ländern der Ersten Welt in den Vereinigten Staaten von Politik kaum die Rede sein. Statt dessen haben wir ja die Wahlen.“ Die Ergebnisse derselben aber sind, wie Vidal behauptet, dank neuer Stimmabgabeverfahren über „Berührungsbildschirme“ inzwischen fast beliebig manipulierbar. Ob sein Verwandter Al Gore oder gar Ralph Nader, der schon 1972 als Präsidentschaftskandidat der von Vidal mitbegründeten linkspopulistischen People’s Party antrat, diesen heillosen Mißständen hätte Abhilfe schaffen können, sei dahingestellt. Daß Vidal dem Gedächtnisschwund seiner Mitbürger noch Einhalt zu gebieten vermag, ist kaum minder schwer zu glauben. Gore Vidal: Die vergeßliche Nation. Wie die Amerikaner ihr politisches Gedächtnis verkaufen. Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 2004, 114 Seiten, Taschenbuch, 12, 90 Euro
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