Poeten sind nicht unbedingt bessere Pädagogen, obwohl sie das gerne selber glauben. Hans Magnus Enzensberger hat jetzt – nach einem Büchlein zum Thema "Mathematik für Jugendliche, weil sie Spaß macht" – schon ein zweites derartiges Büchlein herausgebracht, diesmal zum Thema "Lyrik für Jugendliche, weil sie Spaß macht". Aber es steht zu erwarten, daß auch dieses, in seiner Art durchaus hübsche, Literaturprodukt vor allem Erwachsene beschäftigt und erfreut, die Kinder dagegen kalt läßt.
Andreas Thalmayr (so Enzensbergers hiesiges Pseudonym) schmeißt sich in "Lyrik nervt" (Hanser Verlag, München) zwar mächtig an den Jugendjargon ran, um bei der erhofften jugendlichen Klientel Punkte zu machen, doch ob dadurch spezieller pädagogischer Eros erzeugt wird, muß bezweifelt werden. Selbstverständlich hat Thalmayr recht, wenn er sagt, daß "Lyrik", also Gesangs- und Tanzprosa, rhythmisches Sprechen, Abzählvers und Schüttelreim, einem "menschlichen Grundbedürfnis" entspricht, indes, wenn er dann den üblichen Deutschunterricht beschuldigt, dieses Grundbedürfnis den jungen Leuten in der Schule regelrecht auszutreiben, wird schon einmal ein Fragezeichen fällig.
Pankraz vermutet, daß nicht der Deutschunterricht die allgemeine Lyrik-Gestimmtheit von Kindheit und Jugend zunächst austreibt, sondern das Erwachsenwerden überhaupt und überall, die sogenannte Sozialisation. Zwölfjährige (also genau die Altersklasse, die Thalmayr besonders gern anspräche) sind in allen Ländern und Kulturen entschieden unlyrisch, ja, lyrikfeindlich. Sie verachten das Gezwitscher und die Ringelreihen der Jahrgänge unter ihnen, haben aber noch keinen Zugang zur "gehobenen" Lyrik; der kommt frühestens mit der ersten ernsthaften Verliebtheit. Die Liebe der Zwölfjährigen gilt der knappen, technikorientierten Prosa, und kein Lehrer, auch Thalmayr nicht, kann sie davon abbringen.
Dieses Phänomen ist schon mehrfach erörtert worden, u.a. von dem großen Sprach-Archäologen Walter F. Otto. Es gibt, so die Überzeugung von Otto, am Ursprung der Sprache zwei scharf voneinander abgehobene Stränge lautlicher, akustischer Verständigung: das emphatische, rhythmische, "lyrische" Sprechen einerseits, das praktische, technische, "prosaische" Sprechen andererseits. Das lyrische Sprechen ist das primäre. Erst wenn die Urhorde einen gewissen sprachlichen Frühreifegrad erreicht hat, wenn sie gewissermaßen "zwölf Jahre alt" geworden ist, werden auch die technischen Probleme praktischer Lebensfristung allmählich in Sprache gefaßt.
Otto hat penibel gezeigt, wie gut die Organisation praktischer Lebensfristung in der Urhorde ohne elaborierte Sprache auskam, wie sie sich auf kurze Lautzeichen, die auch schon bei Wölfen und in der Affenhorde vorkommen, beschränkte, während der Hauptteil der Kommunikation von bloßen Gesten und eingeschliffenen Instinkthandlungen angeleitet wurde. So blieb der Lautapparat frei für die Artikulation erster metaphysischer Bedürfnisse, emphatischer Bekundungen der inneren Stammesverbundenheit, der Solidarität mit der Natur in Form des Totems (Bär, Wolf, Leopard usw.), der Unterwerfung unter "göttliche", praktisch nicht beeinflußbare äußere Gewalten.
Derart entstand "Lyrik" als Bezeichnungskunst dessen, was man nicht sehen, begrapschen oder prüfend ins Maul nehmen konnte und was doch das Wichtigste war. Der lyrische Rhythmus stiftete Gemeinsamkeit in der Anbetung dieser "Transzendenz", er war nicht nur der Anfang der Sprache, sondern auch der Musik, die sich nur langsam von der Sprache trennte und noch heute eng mit der Lyrik verschwistert ist. Und außer dem Rhythmus eignete der Lyrik von Beginn an die "Mimesis", die Nachahmung von Lauten aus der Natur, war es nun Vogelsang, Löwengebrüll oder Gewitterschlag. Lyrik benannte nicht, wie später die praktische "lingua pedestris", sie ahmte nach, sie sang mit der Natur, sie tanzte im Rhythmus der betenden Gemeinschaft.
Es ist klar, daß solches Singen, Tanzen und Nachahmen die immer stärker werdenden Benennungsspezialisten, all die Techniker, Wissenschaftler und Logiker, sehr bald "nervte". In einem der großen, primären Benennungs- und Definitionsbücher des Abendlands, in Platons "Politeia", kann man die Genervtheit der Experten durch die Lyrik und die daraus entstehende Verachtung ihr gegenüber sehr gut studieren. Die Lyrik war ein riesiges Ärgernis, bevor sie zum allgemein akzeptierten Ausdrucksmittel und Schmuckelement verliebter Jünglinge und sentimentaler Jungfern wurde. Herbert Spencer hat es später auf den Begriff gebracht: "Wenn sie sentimental werden wollen, sollen sie doch Musik machen oder in die Kirche gehen, aber man verschone uns mit Lyrik."
Gottlob ist solches Banausentum immer in der Minderheit geblieben, aber es war auch immer da und hatte immer ernst zu nehmende Gründe hinter sich. Die Lyrik hat sich zeitweilig sogar darauf eingestellt, indem sie in besonders banausisch-materialistischen Zeiten wie etwa den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts den Maschinenrhythmus der Technik und der wüsten Weltveränderung sklavisch nachahmte und besang; man denke an Brecht oder die Futuristen. Doch latente Spannungen blieben auch dann.
Wenn heute, worauf Thalmayr genüßlich hinweist, bei uns eine wahre "Lyrikwelle" losgebrochen ist, wo Tausende und Abertausende dichten und reimen und verbissen sprachlich Ringelreihen tanzen, so läßt das tief schließen und ist gar nicht leicht zu erklären. Der Massenbetrieb schlägt natürlich beklagenswert aufs allgemeine Niveau. Lyrik fängt nun wirklich an, echt zu nerven, weshalb man die folgenden Sätze Thalmayrs doppelt unterstreichen möchte: "Die Lyrik ist das einzige Massenmedium, bei dem es mehr Produzenten als Konsumenten gibt. . . Aber muß man denn alles veröffentlichen? Nöö."