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Nur eine einzige Erzählung

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Nur eine einzige Erzählung

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Wenigstens einmal im Jahr, wenn der Verfassungsschutz in Nordrhein-Westfalen seinen Bericht vorlegt, ist von der „kulturellen Hegemonie“ die Rede, die eine „Neue Rechte“ in Deutschland gewinnen wolle. Dann wird Antonio Gramsci (1891-1937) zitiert, der den Begriff benutzt hat, unter anderem im Aufsatz „Das Problem der politischen Führung bei der Bildung und Entwicklung der Nation und des modernen Staates in Italien“ (1934/35). Der Aufsatz ist eine zähe Lektüre, geeignet nur für historisch Interessierte. Er umfaßt circa vierzig Seiten, bloß auf den ersten beiden fällt der inkriminierte Begriff. Laut Gramsci äußert sich die Vormachtstellung einer sozialen Gruppe auf zweierlei Weise: In Form von politischer „Herrschaft“ und „geistig-moralischer Führung“. Den italienischen „Transformismus“ des 19. Jahrhunderts, die Gewinnung oppositioneller Abgeordneter für die herrschende Partei, bezeichnet er als „parlamentarischen Ausdruck (einer) geistigen, moralischen und politischen Hegemonie“. Die „geistig-moralische Führung“, die der politischen Herrschaft vorausging, sei durch „liberale“, „individuelle“, „molekulare“, „private“ Aktionen („Initiativen“) von Intellektuellen erreicht worden. Das alles sind heute Binsenweisheiten, ein Verschwörerwissen teilt sich dem Leser hier gewiß nicht mit. Eine präziser ausgeformte Begrifflichkeit findet sich bei dem linken französischen Soziologen Pierre Bourdieu (1930-2002). Statt von „kultureller Hegemonie“ spricht er vom sozialen, kulturellen und symbolischen „Kapital“, das man akkumulieren müsse. In dem Buch „Sozialer Raum und ‚Klassen'“ hat er den Zusammenhang von kultureller und politischer Herrschaft in geradezu brutaler Weise beschrieben: „Denn Erkenntnis von sozialer Welt und, genauer: die sie ermöglichenden Kategorien: darum geht es letztlich im politischen Kampf, einem untrennbar theoretisch und praktisch geführten Kampf um die Macht zum Erhalt oder zur Veränderung der herrschenden sozialen Welt durch Erhalt oder Veränderung der herrschenden Kategorien zur Wahrnehmung dieser Welt.“ Er zitiert Leibniz‘ Wort vom „geometrischen Ort aller Perspektiven“ und meint damit „die von allen anerkannte, autorisierte, universelle Perspektive“. Die Linke hat die Deutungshoheit Wer diese Perspektive definiert, verfügt de facto über eine ähnliche Position wie der Priester in archaischen Gesellschaften, wo das „magische Vermögen der Benennung“ (Herv. i. Orig.) eine „grundlegende Form“ politischer und gesellschaftlicher Macht bedeutet. Die Machthaber verfügen über die „Fähigkeit, etwas explizit, öffentlich zu machen, zu veröffentlichen, gegenständlich, sichtbar, in Worte faßbar, ja offiziell werden zu lassen, was bislang wegen fehlender objektiver oder kollektiver Existenz auf der Ebene individueller oder serieller Erfahrungen verblieb“. Es geht um die „Sinnstiftung der Objekte der sozialen Welt durch Bezug auf Vergangenheit und Zukunft“, die sich über positive oder negative Bewertungen, über Lob und Tadel, Fluch und Segen, Erhebung oder Stigmatisierung, Ein- oder Ausschluß vollzieht. Daß die „herrschenden Kategorien zur Wahrnehmung“ von Vergangenheit und Zukunft in Deutschland heute von der Linken definiert werden, bedarf keines Beweises mehr. Vor allem ihre Deutungshoheit über die „Vergangenheit“, die dabei auf die NS-Zeit verengt wurde, ist nahezu total. Sie ist zugleich zum archimedischen Punkt des politischen Bewußtseins geworden, jedenfalls soweit es öffentlich wird. Über ihre Zukunftsprojekte schweigt die Linke sich zwar aus – der Schock von 1989 wirkt nach -, doch es ist ein unheimliches Schweigen. Das multikulturelle und postnationale Projekt von damals ist keineswegs aufgegeben. Um Brisanz und Bedeutung der Überlegungen Bourdieus heute in Deutschland einzuschätzen, empfiehlt sich ein Vergleich mit denen seines Landsmanns Jean-François Lyotard (1924-1998). Statt von „Kategorien“ spricht Lyotard von „Meta-“ bzw. „Großen Erzählungen“. Diese besitzen eine „Legitimationsfunktion“, das heißt sie rechtfertigen „Institutionen sowie soziale und politische Praktiken, Gesetzgebungen, Ethiken, Denkweisen und Symboliken“. Lyotard legt Wert darauf, daß diese „Erzählungen“ nicht als Mythen, sondern als Emanzipationsgeschichten zu verstehen sind. Das heißt, sie leiten sich statt aus der Vergangenheit aus der avisierten Zielvorstellung her. In einer Demokratie (Lyotard spricht in französischer Tradition von der „Republik“), die, wenn sie sich ernst nimmt, pluralistisch ist, müssen logischerweise mehrere, widerstreitende Erzählungen möglich sein, denn „die Republik veranlaßt nicht zu glauben, sondern zu überlegen und zu urteilen“. Wenn in einer Gesellschaft nur eine einzige Erzählung existiere, sei das ein Zeichen von Despotie. In diesem Licht erscheint Bourdieus Forderung nach Etablierung einer „universellen Perspektive“ antidemokratisch, despotisch, ja totalitär. Totalitär klingt auch sein Anspruch, die soziale Welt „in ihrer alten Form niederzureißen, um sie dann neu aufzubauen“. In Deutschland hat sich der machtpragmatische und monoperspektivische Entwurf Bourdieus gegen den des freiheitlichen Demokraten Lyotard durchgesetzt. Zwischen der Theorie Bourdieus und der aktuellen Praxis in Deutschland gibt es jedoch einen auffälligen Unterschied: Der Franzose hatte keine Schwierigkeit, sich zu den eigenen (politischen und sozialen) Interessen, zu Zukunftspathos und zum Entwurf einer – wie er meinte – besseren Welt zu bekennen. Die deutschen Mandarine aber schweigen dazu, reden nebulös oder moralisieren. NRW-Verfassungsschutz handelt demokratiefeindlich Am auffälligsten ist gegenwärtig die Unlust, die voraussehbaren Konsequenzen des angestrebten EU-Beitritts der Türkei für Deutschland zu diskutieren. Der Grund ist klar: Solche Ziele und Pläne laufen denen des deutschen Demos derart zuwider, daß sich eine „Umkehrung der Legitimation“ (Lyotard) empfiehlt: Eine Legitimation über die Vergangenheit statt über die Zukunft, wobei der manipulative Charakter dieses Verfahrens getarnt werden muß. Das geschieht mittels einer erpresserischen, „narrativen Pragmatik“, die dem mythischen, dem priesterlichen Erzählen nahekommt und die man, in Variation eines von Lyotard angeführten hypothetischen Beispiels, so formulieren kann: Wir, die guten, einsichtigen, moralisch höherstehenden Deutschen, erzählen Euch, dem uneinsichtigen Volk, die Geschichte unserer verbrecherischen Vorfahren – hört sie an, erzählt sie weiter und zieht daraus die einzig mögliche Lehre. Wer aber diese von uns erkannte Lehre nicht akzeptieren will, ihr gar widerspricht, der wird als Feind behandelt und als gesellschaftliches Subjekt ausgemerzt! Der Einwand, daß diese Interpretation eine verengte und verzerrte ist und weniger den historischen Fakten, sondern vielmehr den Interessen und Plänen einer bestimmten Kaste entspringt, kann kaum öffentlich gemacht und damit politisch auch nicht wirksam werden. Lyotard: „Nichts erscheint der republikanischen Legitimität, der deliberativen Organisation der Diskurse, die sie nach sich zieht, und schließlich auch der Geschichtsidee, die sie entwickelt, fremder als das.“ Der Verfassungsschutz von NRW verteidigt mithin keine pluralistische Demokratie gegen eine drohende neurechte Hegemonie, sondern er verteidigt die linke Hegemonie gegen den pluralistischen Anspruch, den die „Neue Rechte“ – ob der Begriff gerechtfertigt ist, sei dahingestellt – vertritt. Er handelt objektiv demokratiefeindlich. Die ideologische Funktionalisierung der „Großen Erzählungen“, der Versuch, durch sie eine gesellschaftliche und politische Autorität zu setzen, eigene Macht und Interessen zu verteidigen, ist zunächst einmal eine Banalität. Diese Praxis rührt vom Ausgang des Mittelalters her, als das Deutungsmonopol des Klerus wegbrach, Transzendenz und Autorität nicht mehr selbstverständlich waren, sondern erst am Ende eines „Diskurses“ standen. „Erzählen“ hieß nicht mehr bloß institutionelle Vorschriften zu befolgen, sondern auf die Evidenz, Überzeugungs- und Verführungskraft der geistigen Produktion zu setzen. Erasmus von Rotterdams „Lob der Torheit“ oder Shakespeares Königsdramen markieren Schnittstellen, von wo an die Autorität und die herrschaftlichen Zwecke von Zeremonien nicht mehr unhinterfragbare Gegebenheiten sind. „Erzählungen“ legitimieren oder delegitimieren jetzt die weltliche Herrschaft. Das ist so simpel, wie die Versuche üblich sind, diesen Zusammenhang zu bestreiten. Problematisch für eine Demokratie wird es erst, wenn eine einzige Lesart durch Einsatz staatlicher Gewalt sanktioniert bzw. tabuisiert, ihr interessengesteuerter Charakter der Nachprüfung entzogen und dadurch ein neues Meinungsmonopol errichtet wird. Dann wird das Rad der Geschichte in die Zeit vor Erasmus und Shakespeare zurückgedreht. Josef Schüßlburner hat in einem Aufsatz zur „Staatlichen Transzendenz in der BRD“, der in der neuesten Ausgabe der Zeitschrift Etappe (JF 12/04) abgedruckt ist, den quasi-mythischen Anspruch der herrschenden Minderheit, den Sinn des geschlossenen „Staatsvertrags“ und den „Willen des Volkes“ zu interpretieren, nötigenfalls auch gegen eine demokratische Wahlentscheidung, scharfsinnig analysiert. Im Grunde bedürfe es, so Schüßlburner, hierzulande gar keiner Wahlen mehr, „weil das, was das Volk wollen wird oder (…) wollen muß, von Berufenen (in der BRD: Dr. Pfahl-Traughber) bereits amtlich erkannt worden ist“. Dem Demos ist diese faktische Vormundschaftlichkeit durchaus bewußt, doch er stellt seine Einwände zurück, weil staatsrechtliche Fiktion (die Volksherrschaft) und die Praxis (die vormundschaftliche Parteienoligarchie) nicht so weit auseinanderklaffen, um nicht doch noch eine gemeinsame Interessenbasis zu finden: „Die Listenwahl innerhalb des Kartellparteiensystems der Bundesrepublik bei Geheimdienstintervention gegen außerhalb des Kartells Stehende scheint dem angesichts des allgemeinen Wohlstands zu entsprechen.“ Hier muß man hinzufügen: noch! Denn die Politikerkaste kann den Erhalt des allgemeinen Wohlstands längst nicht mehr verbürgen, sie scheint inzwischen sogar zum Risiko zu werden. Jetzt ramponiert auch noch die Wirtschaftselite ihren Ruf. Die Pleite von Toll Collect kann in ihrer Wirkung gar nicht hoch genug veranschlagt werden. Namen wie Telekom und Daimler-Benz (DaimlerChrysler) vermittelten auch noch dem dezidiertesten Anti-Deutschen das Gefühl eigener Sicherheit und die Überzeugung, daß ihm, was immer er auch anstellt, gar nichts passieren kann. Dieses Grundgefühl geht nun dahin. Die Entwicklung ist geeignet, die gegenwärtige hegemoniale Herrschaft zur Erosion zu bringen. Politische Klasse kann sich kaum mehr legitimieren Dazu lohnt ein Blick nach Italien, wo es in den neunziger Jahren zu einer völligen Umschichtung innerhalb der politischen Eliten kam – wobei man das Ergebnis (die Regentschaft Berlusconis) keineswegs berauschend finden muß. Auch in Deutschland kann die gegenwärtige politische Klasse ihre Stellung kaum mehr politisch, das heißt durch offerierte Sach- und Lösungskompetenz, mehr legitimieren. Eine vergleichbare Entwicklung ist in Deutschland trotzdem unwahrscheinlich. Statt dessen werden wir erleben, daß das symbolische und kulturelle Kapital als Legitimationsgrund noch stärker in den Vordergrund tritt und um so heftiger verteidigt wird. Der Antifaschismus ist daher nicht bloß der moralische Kitt des Standortes Deutschland, sondern auch ein Machtinstrument und Produktionsmittel, das man sich nicht aus der Hand schlagen lassen wird. Ein anderes italienisches Szenario, eines aus den späten 1960er und frühen 1970er Jahren, ist daher denkbar. Damals erschütterten gewaltige Protestaktionen der Gewerkschaften und Studenten den italienischen Staat und sein Establishment. Daraufhin kam es zu Attentaten und Bombenexplosionen, die gar nicht oder nur teilweise aufgeklärt wurden. Die Ermittlungen endeten zumeist in einem Bermudadreieck aus politischen Extremisten, gewöhnlichen Kriminellen und staatlichen Stellen, etwa den Geheimdiensten. Die Propaganda wies pauschal der Linken die Schuld zu, wodurch die Machtverhältnisse konsolidiert werden konnten. Der Medienwissenschaftler Jean Baudrillard aber fragte damals mit kalter Faszination: „Ist ein Bombenattentat in Italien die Tat von Linksextremisten oder eine Provokation der extremen Rechten, ist es eine Inszenierung des Zentrums, um alle terroristischen Extremisten in Mißkredit zu bringen oder eine wacklige Macht herunterzumachen, oder handelt es sich vielleicht um ein Polizei-Szenario und die Erpressung der öffentlichen Sicherheit?“ Ein Schelm, wer solche Fragen als Matrix über die verschiedenen Anschläge und Brandstiftungen der 1990er Jahre und insbesondere über den „Aufstand der Anständigen“ vom Sommer 2000 in Deutschland legt. Zum Schluß ein kleiner Exkurs. Die Aktivitäten des Verfassungsschutzes von NRW betreffen auch die Scientologen. Ihnen hatte die renommierte Zeitschrift Merkur 1999 eine längere, kritische Kolumne gewidmet. Autor Horst Meyer stellte fest, daß der VS für die „Beobachtung“ der Scientologen über kein „rationales Kriterium“ verfüge. Um sie dennoch zu rechtfertigen, war bei dem Politikwissenschaftler Hans-Gerd Jaschke ein Gutachten in Auftrag gegeben worden. Jaschke hat, wenn man dem Merkur-Autor folgt, denn auch ein politisches Gefälligkeitsgutachten erstellt. Statt die Frage zu beantworten, welche konkrete Gefahr von den Scientologen für die Staatsordnung ausgeht, hat er die „Intensität des verfassungsfeindlichen Denkens“ in den Mittelpunkt gestellt. Dabei gäbe es, wie Meyer schreibt, „ein klares, leicht zu handhabendes Kriterium“, um Staatsfeinde zu erkennen: die Anwendung von Gewalt. Den Grund, den Meyer für die Düsseldorfer Schnüffelpraxis nennt, ist so bestechend primitiv, daß man erschrickt: Der Zusammenbruch des kommunistischen Weltsystems hat dem Verfassungsschutz weitgehend die Geschäftsgrundlage entzogen, was innerhalb des Dienstes zu „fahrigen Suchbewegungen“ führt – „ein ziemlich aussichtsloses Unterfangen, wie mittlerweile auch nachdenklichen Verfassungsschützern schwant. Sie suchen sich deshalb lieber einen neuen Job, statt vage Hoffnungen auf (…) einen Extremismus ’neuer Art‘ zu setzen“. Wenn aber die Nachdenklichen und Klügeren weggehen, wer bleibt da noch? Und darf man ausgerechnet denen auch noch Macht in die Hand geben, welche ihnen die Möglichkeit eröffnet, sich selber als staatlichen Zweck zu setzen? Wäre es da nicht besser, die deutsche Demokratie nähme sich selber endlich ernst, löste den Inlandsgeheimdienst einfach auf und wählte sich keinen neuen? Foto: Spurensuche: Am 27. Juli 2000 explodierte an einem Düsseldorfer S-Bahnhof ein Sprengsatz, der neun Menschen verletzte. Die bis heute nicht aufgeklärte Tat wurde umstandslos „rechten“ Tätern angelastet und führte zum „Aufstand der Anständigen“ und zum „Kampf gegen Rechts“.

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