Anfang der fünfziger Jahre bewunderte die Mehrzahl der deutschen Leser die Verse von Werner Bergengruen, Hans Carossa oder Hermann Hesse und damit eine Lyrik, die ihren klassischen Traditionen treu geblieben war, ohne dabei in restaurativer Stagnation zu verharren. Rainer Maria Gerhardt hingegen verließ den heimatlichen Boden der deutschen Lyrik, um sich auf die surrealistischen und dadaistischen Traditionen der europäischen Moderne zu berufen. Wie vielen seiner Kollegen, die mit der Sprache experimentierten, sollte ihm das nicht gut bekommen. Rainer Maria Gerhardt wurde am 9. Februar 1927 in Karlsruhe geboren. Er absolvierte zunächst eine Banklehre, besuchte anschließend ein Wiener Gymnasium und schrieb sich 1947 an der Universität Freiburg als Gasthörer ein. Noch im gleichen Jahr gründete er den Verlag „Fragmente“, in dem die gleichnamige Zeitschrift und die beiden schmalen Gedichtbände „der tod des hamlet“ und „umkreisung“ erschienen. Nebenher arbeitete er als Übersetzer und Typograph. In den Fragmenten veröffentlichte er neben seinen eigenen Stücken und den Texten internationaler Surrealisten auch Montagen und Kombinationen und stellte mit den Dichtern Ezra Pound und Charles Olson die Väter der „Beat-Generation“ vor, lange bevor Ginsberg und Kerouac auch in Europa zu Kultfiguren avancierten. Gerhardts Versuch eines lyrischen Brückenschlags über den Ozean, zwischen der zerstörten alten und der intakten neuen Welt, gipfelte in Gedichten, die den Mythos vom alten, in viele Facetten zersplitterten Europa evozieren und den Blick freigeben auf Überlieferungen, Epochen, Kontinente und zertrümmertes Bildungsgut, das der Dichter „sarkastisch-spielerisch montiert oder zu strengen Formen zusammenfügt“ (Hans J. Schütz). Von Europa als großer, betörender Metapher kam Gerhardt „in einem von Rhythmus und Klang getragenen Bild“ (Walter Höllerer) zeit seines viel zu kurzen Lebens nicht los. Gerhardts Abgesang auf den Mythos Europa hat jedoch nichts Triumphierendes, sondern zeugt von der Trauer und Verzweiflung eines Dichters, der darunter litt, seine eigenen hohen Ansprüche nicht einlösen zu können. Am 27. Juli 1954 schied er im Alter von 27 Jahren in Freiburg freiwillig aus dem Leben. In seinem nachgelassenen Gedicht „betrachtung“ heißt es: „blinzelnd stehen die jahre auf, werden erhoben / mit geheimen gedeutungen / unter umständen mannigfaltig und nicht zu ergründen / abhängig von bevölkerung und besitz / druck und gegendruck von herren und knechten / abhängig von vielem und wieder / abhängig einzig von der zeit, deren merkmal dies ist / aufsteigen und sein und vergehen in einem augenblick, / einem augenblick, dieser einen zeit.“