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Unwort, Umfrage, Alternativ

Seit der inzwischen berühmt-berüchtigten ersten Pisa-Studie sind vier Jahre vergangen. Damals wurden Kinder aus aller Welt nicht nach ihrem Faktenwissen beurteilt, sondern man testete sie, inwieweit sie fähig waren, mit dem in der Schule erlernten Wissen praktische Probleme zu lösen. Das Ergebnis erschütterte Deutschland: Nicht für das Leben, sondern für die Schule lernen unsere Kinder. Wenn das so neu wäre, könnte man die Aufregung verstehen, aber einen ganz ähnlichen Vorwurf erhob Georg Kerschensteiner schon vor hundert Jahren. Der am 29. Juli 1854 in München geborene Kerschensteiner gibt ein Beispiel dafür, was man alles erreichen kann, wenn man weiß, wofür man lernt. Er hatte sich hochgearbeitet vom Schulmeistergehilfen über den Schulmeister zum Abitur, zum Doktor der Mathematik, zum Gymnasiallehrer, zum Schulrat, zum Pädagogikprofessor, zum liberalen Reichstagsabgeordneten. Eine beispiellose Karriere für den Sohn eines bankrotten Münchner Kaufmanns. Es wäre unmöglich gewesen ohne seine Geistesgaben und die Menschen, die ihm zugetan waren, allen voran seine Mutter, die unter die Marktfrauen ging, um die Familie durchzubringen. Die Familie seiner Frau Sophie Müller unterstützte ihn während seiner Augsburger Zeit, in der er das Abitur nachholte. Viele Lehrer und Professoren förderten ihn. Freunde und Verwandte halfen mit Geld, Essen und abgelegten Kleidern. Und ein älterer Kollege lehnte schließlich das ihm angetragene Amt des Schulrats ab, um sogleich Kerschensteiner als seinen Nachfolger vorzuschlagen. So wurde Kerschensteiner 1895 Stadtschulrat in München. Hinter ihm lag eine Odyssee als Lernender und Lehrender. Domschulen, Stadtschulen, Handelsschulen, Gymnasien, Volksschulen und Landschulen in Franken, Schwaben und Altbayern kannte er von innen. Und immer machte er die gleiche Erfahrung: Die Schüler dienten als Stopfgänse des Bücherwissens. Sein großes Ziel war die Arbeitsschule. Der Begriff stammt von Pestalozzi. Kerschensteiner hat sich nie gerühmt, diesen erfunden zu haben. Es ging ihm darum, dem praktischen Unterricht mehr Raum zu geben. Die Kinder sollten durch handwerkliche Tätigkeit einen stärkeren Bezug zu ihrem realen Leben erfahren. Zuerst führte Kerschensteiner ein freiwilliges achtes Volksschuljahr ein. In dieser Zeit wurden die Jungen neben den üblichen Fächern in Holz- und Metallverarbeitung angelernt. Für die Mädchen stand Gartenbau und Hauswirtschaft auf dem Programm. Später wurde die Klasse für die Jungen verpflichtend eingeführt. Der Erfolg dieser Maßnahme resultierte in erster Linie daraus, daß die Kinder – wie man heute sagen würde – „fit für den Arbeitsmarkt“ gemacht wurden. Wandeln also süddeutsche Kultusminister auf Kerschensteiners Spuren, wenn sie sich den Interessen der Wirtschaft beugen und die Naturwissenschaften und Englisch auf Kosten scheinbar vernachlässigbarer Fächer ausbauen? Definitiv nein, denn Kerschensteiner ging es nicht um den Marktwert der Schüler, sondern um deren Persönlichkeitsbildung. Und Persönlichkeitsbildung war für ihn ein Schritt auf dem Weg zum mündigen Staatsbürger, der seine neuen Rechte und Pflichten im Deutschen Reich nach 1871 optimal wahrnehmen können sollte. Dazu bedurfte es vieler verschiedener Maßnahmen. Die Lücke zwischen Büchern und dem realen Leben mit Hilfe des Werkunterrichts zu schließen, war eine. Die Kinder sollten im praktischen Unterricht ihr Bücherwissen anwenden und im Frontalunterricht die Fragen stellen, die sich während der Arbeit ergaben. Besonders wichtig war Kerschensteiner dabei die tatsächliche Wertschöpfung. Manuelle Tätigkeit ohne reellen Wert ist nichts als gut gemeinte Beschäftigungstherapie. Die Grünlilien-Monokulturen und die gewebten Miniteppiche unserer Grundschulzeit sind stumme Zeugen eines falsch verstandenen Aktionismus. Mit der Zeit gelang es Kerschensteiner, diesen praktischen Unterricht auf alle Schularten auszudehnen. Das hat ihm nicht nur Freunde gemacht, schließlich verschlangen die Laboratorien, Werkstätten und Schulküchen Geld und Raum. Vom Lehrer war mehr gefordert, als das Herunterleiern und Abfragen von Sachverhalten. Werkunterricht war aber nicht Kerschensteiners Allheilmittel. Schließlich war er als Mathematiker kein Fachidiot. In seiner Studentenzeit hielt er sich unter anderem mit Klavierstunden über Wasser. Zeit seines Lebens war er ein begeisterter Konzertbesucher. Er war als Landvermesser in den Alpen tätig. Und als Kind hatte er regelmäßig Zeichenunterricht genossen. Bei seinen Neuerungen hatte es ihm gerade der Zeichenunterricht angetan. Den Schülern sollte eine gute Grundlage mitgegeben werden, um dann selber kreativ tätig werden zu können. Jahrelang befaßte er sich mit Kinderzeichnungen, an denen er den Entwicklungsstand des Kindes herauslesen wollte. Der Pädagoge Kerschensteiner war Praktiker. Seine Theorien begann er erst nach der Jahrhundertwende in Büchern niederzuschreiben. Zu seinen Hauptwerken gehören Titel wie „Grundfragen der Schulorganisation“ (1907), „Charakterbegriff und Charaktererziehung“ (1912) oder „Theoerie der Bildung“ (1926). 1919 nahm er seinen Abschied als Schulrat. Das hätte nicht das Ende seiner Karriere sein müssen, denn er war ein vielgefragter Mann. Unter anderem baten ihn die Republik Irland und die Türkei, die Neuorganisation des Schulwesens zu übernehmen. Er lehnte aus gesundheitlichen Gründen ab. Außerdem verließ er nur noch ungern München und seine Familie. So hat er verpaßt, sich in der Welt ein Denkmal zu setzen. Er starb am 15. Januar 1932. Noch einmal wurde dem sympathischen Pädagogen zu seinem hundertsten Geburtstag gedacht, meist in Form liebenswerter Anekdoten. Doch dann geriet er endgültig in Vergessenheit. Während der Name seines großen Vorbildes Pestalozzi ein Münchner Gymnasium ziert, ehrte ihn seine Vaterstadt nur mit einer kleinen Straße an der östlichen Peripherie. Hat er uns also tatsächlich noch etwas zu sagen? Er hat. Obwohl selbst in die Handwerksbetriebe mittlerweile Computer Einzug gehalten haben und kein Schreiner mehr gezwungen ist, seine Bretter mit der Hand zu sägen, verlieren die manuellen Fähigkeiten nichts von ihrer Bedeutung. Denn eines hat die Wissenschaft mittlerweile festgestellt: Manuelle und intellektuelle Fähigkeiten gehen Hand in Hand. Wer gut auf Bäume klettern kann, erbringt gute Leistungen im Rechnen. Kindern, denen man weniger Mathematik zugunsten von Musik beibringt, können auch nach Jahren noch mit ihren Mathematikkollegen Schritt halten – haben aber einen höheren IQ und sind belastbarer. Kinder, die kochen können, wissen von Haus aus einiges über Chemie und Physik. Der Beispiele gibt es viele und alle passen zu Kerschensteiners Ideal von der Schule als persönlichkeitsstiftender Institution. Eine Alternative dazu sind beispielsweise die fernöstlichen Paukschulen. Japanische Schüler stehen schließlich auch ganz oben auf dem Pisa-Treppchen. Leider führen sie noch eine Statistik an: sie begehen am häufigsten Selbstmord. Foto: Georg Kerschensteiner (1854-1932): Charaktererziehung

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