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Erstorben

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Noch keine acht Jahre ist es her, da hat Matthias Goerne „Die Winterreise“, das wohl gewichtigste musikalische Werk des franziseischen Zeitalters, für die Schubert-Edition bei Hyperion (CDJ 33030) aufgenommen. Die von dem Pianisten Graham Johnson initiierte und über 14 Jahre begleitete Edition setzte nicht nur neue Maßstäbe für den Umgang mit Franz Schuberts Liedwerk auf Tonträgern, sie brachte neben anderen jüngeren Sängern auch den 1967 geborenen deutschen Bariton schlagartig ins Gespräch. Der Aufnahme war ein Liederabend in der Londoner Wigmore Hall vorausgegangen. Und an eben diesem Ort hat Goerne im Oktober vorigen Jahres den Lieder-Zyklus wiederum öffentlich gesungen, am Flügel begleitet von Alfred Brendel (Decca 467 092-2). Begleitung ist nicht das treffende Wort. Brendel spielt den Klavierpart mit heiliger Nüchternheit und sparsamem Gebrauch der Pedale. Der Klaviersatz wirkt gleichsam skelettiert, wo Brendel sich und uns doch nur alle biedermeierliche Verpackung erspart, diese ganze Betroffenheitsagogik mittlerer Interpreten, mit der sie uns ein ums andere Mal in den Ohren liegen, als wäre des Wanderers Schicksal ohne jede Vermittlung das unsere, vor allem jedoch das ihre. Das angeschlagene Tempo „Mäßig, in gehender Bewegung“ des ersten Liedes „Gute Nacht“ setzt sich in dem Hörer als inneres Tempo fest, an dem er fortan die Abweichungen der 23 folgenden Lieder zu messen hat. Dabei nehmen Brendel und Goerne die schnelleren Lieder sogar schneller, die langsameren langsamer als in Goernes früher Interpretation. Ein Gesamtzusammenhang bleibt gewahrt, ohne daß dafür auch nur ein einziges der von Schubert notierten Ausdrucksmittel gleichgeschaltet werden müßte. Ganz im Gegenteil werden sie von Brendel und Goerne wirklich bis in die Extreme ausgereizt, die unerhörten musikalischen Neuerungen Schuberts gleichsam protokollarisch erfaßt. Goerne führt seine Stimme sehr instrumental, und Brendel bringt das Instrument zu Klangrede, ohne je überreden zu wollen – und schon gar nicht die Sängerstimme. Goernes Bariton, der vor Jahren bisweilen angeschafft düster klang, hat heute eine charakteristische dunkle Tönung, auch wenn uns der Sänger hin und wieder mal ein Ü für ein I vormacht. Und es scheint, daß die Kunst des Legatosingens und die des Kontrastierens sich nicht mehr lange werden gegenseitig ausschließen müssen. Noch will sich Goerne der verzweifelt auftrumpfenden Geste und schauerlichen Grimasse nicht recht stellen, weil er befürchtet, damit der Pädagogik ein Einfallstor in den Bezirk der Kunst zu öffnen – übrigens nicht ganz zu Unrecht. Aber eine Arbeitsteilung zwischen Sänger für die Seele und Pianist für die Formen läßt sich auf Dauer nicht durchhalten. Schuberts Melodien sind nicht dazu gemacht, um in Schönheit zu sterben und sterben zu lassen. Sie überwölben monotone Begleitakkorde, ohne mit oder von ihnen auch nur einen Schritt oder Takt fortzukommen. Sie kommen und gehen mit Erinnerungsbildern, in die grotesk-komische Klangfiguren jäh dazwischenfahren, und mit Trugbildern, Wiener Walzer tanzend wie jener Kongreß, auf dem Eise, unterm Eise, auf einem Totenacker, gleichviel. Sie fallen in völlige Leere, wenn der Klaviersatz plötzlich aussetzt, und sie wollen mit ihm verlöschen, pianopianissmo, von Goerne und Brendel bis ins Unhörbare zurückgenommen, mitten im Lied. „Mein Herz ist wie erstorben“, heißt es bei Schubert, wo es beim Dichter „erfroren“ hieß, und auch Goerne singt: „erstorben“. Trostloser und heutiger kann diese Musik kaum klingen! Foto: Der einsetzende Beifallssturm erinnert daran, daß da außer Goerne und Brendel überhaupt noch jemand geatmet haben muß.

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