Einige Monate vor dem 1. Mai 2004, einem jener „historischen“ Tage, die unseren Geschichtskalender füllen sollen, hat der Schweizer Journalist Christoph Neidhart ein Buch über die Ostsee vorgelegt. Marktstrategisch also gut terminiert und die EU-Osterweiterung stets fest im Blick. Denn Titel und Inhalt des Werkes stimmen nicht ganz überein. Tatsächlich erregt nicht die gesamte Ostsee, sondern vornehmlich nur ihr östlicher Teil des Verfassers Interesse. Ihr bundesdeutscher Anrainer kommt nämlich kaum vor, während es der Raum zwischen Stockholm und Sankt Petersburg, dem Baltikum, Finnland und den Ålandinseln dem Tokio-Korrespondenten der liberalen Weltwoche offenbar besonders angetan hat. Nicht von ungefähr, denn hier, in der östlichen Insel- und Schärenwelt dieses Binnenmeers, kann Neidhart schließlich noch Entdeckungen machen. Nicht erst die vierzig Jahre hinter dem „Eisigen Vorhang“ haben die Kulturen an diesen Gestaden westlicher Aufmerksamkeit entrückt. Bis 1917 gehorchten die Völkerschaften zwischen Litauen und Lappland dem Befehl des Zaren. Für das diffuse Bewußtsein ihrer westlichen Nachbarn waren sie damit „Europa“ entrückt, verdammt, unter einem „asiatischen“ Despotismus zu leben. Das eigenstaatliche Intermezzo der „Kleinvölker“ Litauens, Lettlands und Estlands sowie Polens hat diese Wahrnehmung nicht korrigieren können, so daß sie nach 1945 unter dem „Schutz der Sowjetunion“ für den Durchschnittswestler auch auf dem Mond hätten liegen können. Das mag nach 1989 anders geworden sein, schon weil ein recht ansehnlicher Touristenstrom ins Baltikum und nach Sankt Petersburg gelenkt wurde. Doch besteht weiter ein immenser Informationsbedarf, der mit Neidharts journalistischen Momentaufnahmen wenn nicht befriedigt, so doch vielleicht erst richtig angestachelt werden könnte. Denn mehr als ein Appetitanreger, mehr als ein erster Einstieg in eine fremde Welt, die Neidhart unbefangen als „Großraum Nordosteuropa“ präsentiert, sind seine Impressionen nicht. Neidhart, geboren 1954 in Basel, kennt Land und Leute seit den siebziger Jahren. Über die Anfänge der Solidarnosc-Bewegung, über Walesas erste Auftritte als Danziger Streikführer berichtet er als Zeitzeuge. Zu estnischen Oppositionellen bestanden Kontakte. Trotzdem hält er sich mit Vergleichen zurück, deutet nur an, wie sich der Elitenwandel nach 1989 vollzog. Ebenso hingetupft wirken seine Beschreibungen der sozialen Milieus, der ökonomischen Verwerfungen im zerbröselnden Ostblock. Mit dem Hinweis auf Nokia und frühere Erfolgsgeschichten wie jene Alfred Nobels gleich von der „See der Erfinder“ zu reden, klingt zwar „griffig“, bleibt aber an der Oberfläche. Die aktuellen wirtschaftlichen Probleme, die Perspektiven nach dem EU-Beitritt Polens und der baltischen Staaten, sind darunter kaum erkennbar. Es sei denn, man wertet die vielen Schlaglichter auf alte Stadtkerne, Yachthäfen, Ferienhäuser, Fährverbindungen und Segelreviere als Vorausblick auf die touristische Marina-Welt der Zukunft, in der sich die Küstenbewohner nur noch als Dienstleister in der „weißen Industrie“ verdingen könnten. Insgesamt weicht Neidhart „harten Fakten“, politisch-sozialen wie ökonomischen Zuständen eher aus, so daß darüber gerätselt werden darf, ob dieser „Großraum“ demnächst wie ein hypertrophes Süditalien als „Armenhaus“ Europas von Brüsseler Fördermillionen lebt. Nur einmal gibt der Autor seine politische Abstinenz auf und holt zum Schlag aus – gegen die „kollektive Selbstherrlichkeit“ der norwegischen Gesellschaft. Da das Norwegen-Kapitel in einem Ostseebuch aber deplaziert ist, wirkt der heftige Ausfall des Schweizer Individualisten gegen das „kalte Emirat am Polarkreis“ eher schrullig. Neidharts in zahlreiche Kleinstkapitel unterteilten Betrachtungen sind von historischen Rückblicken durchzogen. Sie bilden den mit Abstand schwächsten Teil des Buches. Dies gilt in erster Linie für alle Passagen, in denen er sich mit deutscher und polnischer Geschichte beschäftigt. Elbing und Kolberg, so will er uns belehren, seien „multiethnische“ Städte gewesen. Von „multiethnischen“ Regionen zu reden, wenn man die deutschen Ostprovinzen meint, ist heute bei denen in Mode gekommen, die grobe kommunistischer Geschichtsklitterung scheuen und nicht mehr vom „urslawischen Boden“ sprechen wollen. Eine Berührung mit der historischen Wahrheit kann so gleichwohl vermieden werden. Kolberg, dies wäre mühelos zu recherchieren gewesen, hatte 1925 knapp 28.000 Einwohner, darunter 300 „polnischsprachige“. Das „Multiethnische“ dieser pommerschen Hafenstadt reduziert sich also auf einen Bevölkerungsanteil von einem Prozent. Nicht anders sah es in Elbing aus. Ebenso bleibt es Neidharts Geheimnis, warum 1939 die vorgeblich „alte Ostsee-Ordnung“ – gemeint ist allen Ernstes „die Versailles-Ostsee“ – zusammengebrochen sei und warum Danzig „eine deutsche Stadt der Niederländer, Schotten und Polen“ gewesen sein soll. Dem ehemaligen Moskau-Korrespondenten wäre hier ein Blick in die Prawda anzuraten, die 1929 ausnahmsweise einmal ihrem Namen alle Ehre machte, als sie die Ankunft einer Danziger Delegation in Stalins Reich mit dem Hinweis kommentierte, Danzig sei zu „95 Prozent deutsch“ und nur von „kapitalistischen Räubern“ unter zynischer Mißachtung des von ihnen proklamierten Selbstbestimmungsrechts Pressionen „polnischer Imperialisten und Militaristen“ ausgesetzt worden. Solche klaren Aussagen passen Neidhart freilich kaum ins Konzept, der mit einer Mischung von Wurstigkeit, vorsätzlicher Fälschung und PC-Anpassung Geschichtsversionen liefert, die er für EU-kompatibel halten mag. Daß er dabei Senatspräsident Hermann Rauschning posthum nobilitiert und zum „NS-Gauleiter“ befördert, kann so wenig verwundern wie die Schreibweise des wahren obersten Parteigenossen, der hier Foster statt Forster heißt, oder die eigenartige Trennung zwischen „deutschen Ostgebieten“ und „Ostpreußen“. Wenn er „Trutzburgen des Deutschen Ordens“ erwähnt, fügt er ans historisch irrelevante polnische „Malbork“ nur widerwillig „oder Marienburg“ an. Ähnlich nachlässig geht Neidhart auch mit der Geschichte Ostpreußens um. Die „meisten Königsberger“ seien 1945 vor der Roten Armee geflohen, wie übrigens auch die Danziger ihre Stadt „in aller Eile verließen“. Vertreibung? Bei Neidhart Fehlanzeige. Die nicht geflohenen Königsberger hätten bis 1947 lediglich einen „Arbeitseinsatz“ absolvieren müssen, seien dann in die DDR „umgesiedelt“ worden. Morde, Vergewaltigungen, Hungertod unter dem sowjetischen Regime? Davon hat Neidhart offensichtlich nie gehört. Vielleicht eine Folge Schweizer Sozialisation, habe man, wie er erzählt, in Basel nach 1945 doch schon dann leicht aggressiv reagiert, wenn Memels deutscher Name anstelle des sowjet-litauischen Klaipeda genannt worden sei. Von der „staunenswerten Beobachtungsfähigkeit“, die ihm der wegen seiner krassen Fehleinschätzungen in Sachen DDR nicht unbedingt kompetente Kollege Klaus Bölling im Klappentext nachrühmt, ist in diesen historischen Exkursen wenig zu spüren, dafür um so mehr von einem mindestens ebenso staunenswerten Konformismus. Christoph Neidhart: Ostsee. Das Meer in unserer Mitte. Marebuchverlag, Hamburg 2003, gebunden, 390 Seiten, 24,90 Euro Foto: Blick auf Jomala auf den Aland-Inseln: Unbefangen als „Großraum Nordosteuropa“ präsentiert