Es gibt einen Aufsatz von Armin Mohler, der vor mehr als zwanzig Jahren, 1981, unter dem Titel „Mafia, Gulag und Agon“ erschien und dem man eine gewisse prophetische Qualität zusprechen muß. Mohler führte damals aus, daß es in der Moderne nur drei Arten politischer Existenz gebe: die Räuberbande auf mehr oder weniger gehobenem Niveau (Mafia), das totalitäre System (Gulag) und eine Ordnung disziplinierter Freiheit (Agon). Was seinem Text Brisanz verlieh, war die Behauptung, daß die Aversion gegen Mafia und Gulag nicht genüge, um deren Erfolg zu verhindern, zumal im Westen die Sorge vor letzterem so stark sei, daß man die Gefahr unterschätze, die in ersterem liege. Die agonale Form sei die empfindlichste der drei und vertrage keine dauernde Überbeanspruchung. Während es unwahrscheinlich sei, daß der Europäer sein Heil in einem Zuviel an Disziplin suche, bestehe sehr wohl die Möglichkeit, daß im Namen der Freiheit die Durchdringung des Staates mit mafiosen Strukturen erfolge. Prophetisch war Mohlers Annahme insofern, als es heute Analysen der Verbrechensentwicklung gibt, die exakt diesem Bild entsprechen. Vor allem die „Organisierte Kriminalität“ nimmt seit den achtziger Jahren bedrohliche Formen an. Der Journalist Jürgen Roth hat sich in der Vergangenheit schon mehrfach mit diesem Phänomen auseinandergesetzt, und in seinem neuen Buch „Ermitteln verboten!“ zeichnet er ein weiteres düsteres Bild der Gesellschaft, die von den Metastasen der Organisierten Kriminalität befallen wird. Nach Auffassung Roths ist der Prozeß gekennzeichnet durch die Entstehung und das dramatische Wachstum „ethnischer Parallelgesellschaften“ in Deutschland, die mehr oder minder starke Bindung von Politikern an die Interessen der Verbrecher und deren Möglichkeit, die Polizei an der Arbeit zu hindern. Neben dem klassischen Herkunftsland der Organisierten Kriminalität des Westens – Italien – seien heute vor allem der Balkan, Rußland und dessen Ränder Ursprungsgebiete von „Clans“, deren Geschlossenheit ihnen ein ausgesprochen effektives Operieren in fremder Umgebung ermögliche. Neben Prostitution und Rauschgifthandel beschäftigten sich diese Gruppen vor allem mit Geldwäsche und kämen auf diese Weise in den Besitz von Kapital, das sie benötigten, um in den legalen Wirtschaftssektor einzusteigen. Ob Feinschmeckerrestaurant oder Boutique, Baufirma oder Spedition, Devisenhandel oder Anlagegeschäft, überall finde man mittlerweile Unternehmen, die ganz oder teilweise durch auf kriminellem Wege erworbene Mittel finanziert werden. Daß das möglich sei, gehe vor allem auf das Verhalten von Politikern zurück, die entweder sträflich naiv seien oder von den Verbrechern gekauft wurden. Auf deren Eingriffe in staatsanwaltliche Tätigkeit und polizeiliche Ermittlungen sei letztlich zurückzuführen, daß die Bekämpfung der Organisierten Kriminalität so aussichtslos erscheine. Roth zitiert Sätze des ehemaligen Leiters des Bundeskriminalamtes, Hans-Ludwig Zachert: „Organisierte Kriminalität zu knacken ist heute fast nicht mehr möglich“; „Die Bekämpfung von Organisierter Kriminalität ist politisch nicht gewollt“; „Die politische Einflußnahme auf Verfahren wird immer stärker. Ich beobachte die Politisierung der Strafverfolgung“; „Der Staat ist unter die Räuber gefallen.“ Der Zusammenhang von ungehemmtem Wachstum der Kriminalität, Wahrnehmungsverweigerung und Sabotage der Abwehrmaßnahmen wird von Roth an verschiedenen Beispielen anschaulich illustriert. Während einige Verantwortliche immer wiederholen, daß es keinen signifikanten Anstieg der Verbrechensrate gebe, rechnet der Verfasser etwas ganz anderes vor: Allein im Bundesland Rheinland-Pfalz stieg die Menge der Straftaten zwischen 1993 und 2003 von 236.175 auf 287.747. Daß sich dieser Befund nicht mit statistischen Verzerrungen oder „Meßfehlern“ erklären läßt, erhellt schon aus der Zunahme der Gewaltkriminalität (von 6.177 auf 9.538 Fälle) und der Delikte, bei denen Schußwaffen zum Einsatz kamen (von 525 auf 1.433 Fälle). Dem Anstieg der Kriminalität stehen ein kontinuierlicher Abbau der Polizeikräfte gegenüber und eine politische Linie, die die Aufklärung von Verbrechen nur noch zulassen möchte, wenn Aussicht auf Erfolg und Kostenkontrolle möglich erscheinen. Die Entschlossenheit, mit der aus kosmetischen Gründen Tatsachen verbogen oder verschwiegen werden, zeigt Roth am aktuellen Fall der EU-Osterweiterung. Nach seinen Informationen hat das BKA eine Studie über die zu erwartenden Folgen erstellt, die unveröffentlicht bleiben mußte, weil sie eine „Kriminalitätsschwemme“ prognostizierte, der man nichts entgegenzusetzen habe. Aber wahrscheinlich sind selbst die pessimistischen Annahmen des Bundeskriminalamts noch zu vorsichtig; nach Auffassung eines russischen Spezialisten warteten sieben Millionen Menschen auf die Öffnung der Grenzen, um nach Westen zu gehen, Europol rechnete bestenfalls mit 2,5 Millionen. Es liegt in der Natur der Sache, daß bei Aufklärung über ein so heikles Gebiet wie Organisierte Kriminalität und Korruption viele Aussagen auf Indizien oder Mitteilungen anonymer Zeugen beruhen. Das schwächt die Überprüfbarkeit von Feststellungen, muß aber wohl in Kauf genommen werden. Problematischer ist dagegen Roths Verfahren, im Hinblick auf betroffene Politiker fast nur bürgerliche (Helmut Kohl, Manfred Kanther, Bernhard Vogel) oder Vertreter machtloser Randgruppen (Ronald Schill) in den Blick zu nehmen. Man sieht an dieser Perspektive hinreichend deutlich, daß Roth das Problem von links aus betrachtet, und entsprechend sieht auch seine Gesamtinterpretation aus. Für den Verfasser ist das „Bündnis von Gesellschaft und Verbrechenskultur“ letztlich verankert in den Gesetzen der kapitalistischen Wirtschaft. Der freie Markt und die Globalisierung erzeugten soziale Verwerfungen, die wiederum den Boden für die Organisierten Kriminalität bereiteten. Das ist eine zumindest unvollständige Analyse, und ebenso unvollständig ist auch die von Roth vorgeschlagene Therapie: mehr Transparenz, mehr Demokratie, mehr Arbeitsbeschaffung, mehr Sozialhilfe. Verblüfft nimmt man wahr, daß es jemandem, der mit den Details so vertraut ist, möglich erscheint, das Phänomen Organisierte Kriminalität zu behandeln, ohne auf die dramatische Zerstörung der klassischen Staatsfunktionen im Verlauf der letzten Jahrzehnte einzugehen. Nirgends findet man bei Roth die Erwägung, daß die Ideologie des „Liberalismus“ und der damit verbundene Abbau von Institutionen eine wesentliche Rolle für den Aufstieg des Verbrechens gespielt haben könnten. Insofern ist das Ergebnis der Lektüre zwiespältig. Wie so viele, die neuerdings vor dem großen Verfall warnen, scheut Roth zuletzt den Blick in den Abgrund. Das trennt ihn von denen, die mehr können als Recherche und Reportage, Martin van Creveld etwa, der schon lange auf die Möglichkeit hinweist, daß kriminelle Syndikate an die Stelle von Staaten rücken könnten; dagegen sei Widerstand um beinahe jeden Preis geboten, denn, wenn der versage, bleibe nichts, als die eigenen Kinder so zu erziehen, daß sie den Kriminellen möglichst ähnlich würden. Jürgen Roth: Ermitteln verboten! Warum die Polizei den Kampf gegen die Kriminalität aufgegeben hat. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2004, gebunden, 272 Seiten, 19,90 Euro