Es ist ein uraltes menschliches Verlangen, die eigene Zeit mit ihren Ereignissen und Erscheinungen zu erforschen und zu verstehen. Jede Ära wirft ihre eigenen Formen in beständig wechselnder Gestaltung auf den Boden der Geschichte. Einer Prägung unterliegt auch das Menschengesicht. Es ist die Aufgabe der Fotografie, ihm das Bild abzugewinnen, wie man auch einem Toten die Maske abnimmt. Nun ist die Fotografie nicht objektiv, weil zu viele Lügen sie umschwirren, verfälschende Größen wie unnatürliches Licht, erhöhter Kontrast, eingenommene Pose des Dargestellten, wie auch die Anordnung der Teile im Bildausschnitt. Man bedenke, daß jedes Bild nur der Ausschnitt aus einem verlorenen Ganzen ist, also schon eine Abstraktion. Ebenso haben Brennweite, Tiefenschärfe und Aufnahmeabstand Einfluß auf den Bildeindruck. Mit dem Versuch, im Antlitz des Menschen das Zeitbild zu offenbaren, ist untrennbar der Name August Sanders verbunden. In jahrzehntelanger Arbeit trug er ein Porträtwerk zusammen, das in Stände und Berufsgruppen gegliedert vor unseren heutigen Augen das Gesellschaftspanorama einer vergangenen Epoche erstehen läßt. „Da der Einzelmensch keine Zeitgeschichte macht, wohl aber den Ausdruck seiner Zeit prägt und seine Gesinnung ausdrückt, ist es möglich, das physiognomische Zeitbild einer ganzen Epoche zu erfassen und zum Ausdruck im Photo zu bringen. Dieses Zeitbild wird noch verständlicher, wenn wir Photos von Typen der verschiedensten Gruppen der Gesellschaft aneinanderreihen“, schrieb der Fotograf selbst. Der Einzelmensch macht keine Zeitgeschichte Geboren wurde Sander 1876 in Herdorf, einer Kleinstadt im Siegerland, wo er inmitten einer bodenständigen Kleinbauernschicht heranwuchs. Der Zwanzigjährige konnte beim Antritt des Militärdienstes in Trier dank der Patronage eines finanzkräftigen Onkels schon auf fotografische Amateurerfahrungen zurückblicken, die er in einem lokalen Atelier erweiterte. Mit einem Zeugnis versehen reiste er ab 1899 zur weiteren Ausbildung nach Magdeburg, Halle, Leipzig und Berlin. 1901 übernahm er ein Atelier in Linz an der Donau, heiratete und hatte als Kunstfotograf auf Anhieb Erfolg beim Ablichten der großstädtischen Oberschicht. Als er 1909 nach Köln-Lindenthal umsiedelte, versagten sich die rheinischen Honoratioren zunächst seinem neu eröffneten Atelier, so daß er sich nach Ersatzaufträgen auf dem Land umsehen mußte. Hier erhielt Sanders Leben seinen Wendepunkt. Das Unglück ausbleibender Aufträge in der Großstadt führte ihn seiner eigentlichen Bestimmung zu, die ihn zum bedeutendsten Vertreter der deutschen Fotografie werden ließ. Nach einer längeren Zeit der Pendelfahrten zu Westerwälder Bauernhöfen war er dort bald sehr gefragt. Hier lebten keine Oberschichtler, hier fühlte er sich zu Hause, kannte den Menschenschlag, dessen lokalen Dialekt er sprach. Seine Großstadterfahrung und sein durch Bildung erweiterter Horizont hingegen gewährten ihm eine neue Blickart auf das Altvertraute. Die Bauern verharrten in Verschlossenheit wie angewurzelt vor Sanders Kamera, von der Moderne noch unberührt. Nüchtern, klar bannte sie das Negativ, fast ist es schon Dokumentation. In der Aneinanderreihung eröffnete sich dem Lichtbildner ein neuer Ansatz. Zwischen 1911 und 1914 entstand die Idee, durch Aufreihung der Menschentypen zu einer Kette den Typus der Epoche herauszuarbeiten, also mit der Kamera eine Art Kulturgeschichte oder Soziologie zu betreiben. Sander wollte, wie er 1927 schrieb „durch die Photographie in absoluter Naturtreue ein Zeitbild unserer Zeit geben“. Mit den Westerwälder Bauernbildern war ein Anfang gemacht, der sich allmählich zu einem Plan eines viel größeren dokumentarischen Vorhabens auswuchs. Der Weltkrieg beendete das vorerst und scheint überdies spurlos an Sander vorübergezogen zu sein. Die Zeit danach brachte Umdenken mit sich. Auftragsmangel gab Muße zu langen Auseinandersetzungen mit den Malern Seiwert und Hoerle aus der Gruppe der nachträglich so genannten „rheinischen progressiven“ Künstler und führte zur Erkenntnis, daß Malerei und Fotografie verschiedene Wege gehen müssen. Als technische Konsequenz ergab sich um 1922 die Aufgabe der malerischen Gummidrucke. Fortan verwendete Sander die sonst für technische Aufnahmen gebräuchlichen Silbergelantinepapiere, deren glatte Oberfläche und tiefere Schwärzen eine deutlich höhere Bildauflösung ergaben. Jede Einzelheit wurde klar und scharf erkennbar. Die erstrebte Sachlichkeit wurde möglich. Nun versuchte Sander Aufbau und Ordnung der Gesellschaft für sein Porträtkompendium festzulegen. Ein Konzept nahm Gestalt an. 1924 entstanden erste Aufnahmen ohne Auftrag. Wirtschaftlich wurde dies mit dem um diese Zeit einsetzenden Aufschwung möglich, der Sanders Auftragslage verbesserte. Seine beste Zeit brach an. Bereits 1929 erschien unter dem Titel „Antlitz der Zeit“ eine Auswahl von sechzig Aufnahmen in Buchform, versehen mit einem Vorwort Alfred Döblins. Schon 1934 wurde dieser kleine Erfolg durch die Einziehung der Restauflage und der Zerstörung der Druckstöcke abgebogen. Vermutlich wäre es dazu nie gekommen, hätte Sander nicht seinem Sohn bei der fotografischen Vervielfältigung kommunistischer Flugblätter geholfen, was weniger aus politischer Überzeugung als aus väterlicher Hilfsbereitschaft geschehen war. Unübersehbar hatten sich die Umstände für sein geplantes Mappenwerk verschlechtert. Zum einen war das wenig Idealisierende der neuen Macht unerwünscht, die aus dem Kaleidoskop der Typen bevorzugt den nordischen herauszustellen wünschte. Zum anderen, und diesen Umstand erwähnte bis heute noch keine Abhandlung über Sander, sorgte die Technokratie des Nationalsozialismus für eine gehörige Beschleunigung der schon eingesetzten Auflösung der überkommenen Schichtung des Volkes. Rundfunk, bald auch Fernsehen, Autobahn und Volkswagen, sowie Hitlerjugend, Arbeitsdienst und Wehrmacht, also allgemeine Gleichschaltung, ließen die Menschen einer Gleichmachung näherrücken. Der Volkscharakter wurde entgegen ideologischen Verlautbarungen abgeschliffen. Das Kriegsende tat dazu ungewollt ein Übriges. Interesse und Förderung waren nunmehr seit 1934 abgebrochen. Nur wenig neues Material entstand, einige Soldatenbilder und zwei neue Rubriken „Nationalsozialisten“ und „Verfolgte Juden“. Sander nahm in dieser Zeit überwiegend Kölner Stadtansichten und Landschaften auf. 1943 schaffte er die wertvollsten Bildbestände nach Kuchhausen, einem kleinen Dorf bei Honnef, wo er vom Kriegsende bis zu seinem Tod in einer kleinen Mietwohnung dahinlebte. Ein Brand nach einem Bombenangriff löschte im Kölner Atelier einen Teil des Negativbestandes aus. Sanders fotografisches Werk war nach dem Krieg nahezu zum Erliegen gekommen, wenn man von einigen Bauernaufnahmen absieht. Er sichtete und ordnete die alten Bestände und konnte 1952 die Kölner Dokumentation der Stadt für 25.000 Mark verkaufen. 1962 erlebte er noch die Buchveröffentlichung einer Porträtauswahl unter dem bezeichnenden Titel „Deutschenspiegel“. Ein Schlaganfall beendete am 20. April 1964 Sanders Leben. Der Berliner Gropius-Bau wartet nun mit einer Ausstellung von Sanders Porträtwerk auf, das unter dem Namen „Menschen des 20. Jahrhunderts“ bereits Geschichte geworden ist. Sie bietet rund 250 Originalabzüge bester Erhaltung unter den vom Fotografen selbst vergebenen Gruppentiteln: Der Bauer, Der Handwerker, Die Frau, Die Stände, Die Künstler, Die Großstadt und Die letzten Menschen. Eine solch umfangreiche Präsentation in Ausstellung oder Publikation ist dem Bildautor zu Lebzeiten nicht vergönnt gewesen. Sanders Werk und Gedankenwelt sind nur verknüpft zu denken. Nicht Einkommen und Besitz war ihm Maßstab der gesellschaftlichen Schichtung. Die Gesellschaft dachte er sich vielmehr in der Vereinigung verschiedener Zivilisationszustände zur gleichen Zeit. Wurzelboden und Kraftquelle aller Kultur sind die Bauern, während die hochindustrialisierte Großstadt Überfeinerung, Auszehrung und Zerstörung herbeiführt. So ging Sander vom Bauern aus, dem erdgebundenen Menschen, um durch alle Schichten und Berufe, vom Kleinstädter bis zum Großindustriellen und Komponisten, einen Bogen zu spannen. Am Ende stehen die „letzten Menschen“, Idioten, Kranke und Irre, die gleichsam den Bogen in der Abwärtsbewegung beenden. Das letzte Bild zeigt unter dem Titel „Materie“ den Kopf einer aufgebahrten Toten hohen Alters. „Man hat vor sich eine Art Kulturgeschichte, besser Soziologie, der letzten dreißig Jahre. Wie man Soziologie schreibt, ohne zu schreiben, sondern indem man Bilder gibt, Bilder von Gesichtern und nicht etwa von Trachten, das schafft der Blick dieses Photographen, sein Geist, seine Beobachtung und nicht zuletzt sein enormes photographisches Können. Wie es eine vergleichende Anatomie gibt, aus der man erst zu einer Auffassung der Natur und der Geschichte der Organe kommt, so hat dieser Photograph vergleichende Photographie getrieben und hat damit einen wissenschaftlichen Standpunkt oberhalb der Detailphotographen gewonnen“, so kommentierte Döblin zutreffend. Der Mensch erscheint auf Sanders Bildern stets unfragmentiert in seiner Ganzheit. Die für damalige Zeit antiquierte Aufnahmeweise mit einer großformatigen Balgenkamera auf Glasnegative, mit Stativ und Belichtungszeiten bis zu vier Sekunden gewährte keine Schnappschüsse und ließ den Porträtierten Zeit, ihr Wesen in statuarischer Festigkeit zu entfalten. Zufall lag fern. Die Darstellungen entwickelten sich meist aus dem sozialen Zusammenhang heraus, um sich gleichsam als Fixpunkte eines gesellschaftlichen Kosmos zu erheben. Die Betrachtung dieser Bilder kommt einer Zeitreise gleich, bei der das Gesellschaftspanorama einer vergangenen Epoche vorüberzieht. Für Döblin schrieb Sanders Soziologie, ohne zu schreiben Daneben folgte Sander, vielleicht unbewußt, dem Typisierungswunsch seiner Zeit. Bei Erna Lendvai-Dircksen, die Bauern in allen deutschen Ländern von Schwaben bis Ostpreußen aufnimmt, ist es der Volkstyp. In den rassekundliche Büchern von H.F.K. Günther und L.F. Clauß ist es der Körperbautyp. Berufs- oder Ständetyp könnte man es bei Sander nennen. Viele seiner Bilder sind zu Ikonen des 20. Jahrhunderts geworden. Zu ihnen gehören die „Drei Jungbauern“ von 1914, deren nähere Betrachtung sich lohnt. Der hintere scheint mit schrägem Stock und Zigarette im Mundwinkel noch in Bewegung, der mittlere hat die Zigarette schon in der Hand und wirkt innehaltend. Der vorderste ist aus dem Schreiten heraus schon in der Pose erstarrt. Das Ereignishafte ist in eine Zuständlichkeit überführt, in der das Foto zu einem überindividuellen, sozialen Gruppenporträt gerinnt. Dabei verdichtet die Verdreifachung nur die eine Identität. Der Fluß des Lebens wird in eine übergeordnete Form überführt, das Besondere zum Allgemeinen. Das Porträt dreier zum Tanze schreitender Jungbauern gerät zum Abblid einer gesellschaftlichen Schicht. Diese Qualität erweist den Rang Sanders. Fotos: Streichholzverkäufer (1927): Versuch, im menschlichen Antlitz das Zeitbild zu offenbaren Bürgerkinder (1925), Bauernpaar (1912), Bauernkind (1919): Fast schon Dokumentation Jungbauern (1914), Schmiedearbeiter (1926): Von der Moderne unberührt verharrten sie vor der Kamera Die Ausstellung zu August Sander ist noch bis zum 11. Januar im Martin-Gropius-Bau, Niederkirchnerstr. 7, zu sehen. Info: 030 / 25 48 60