Susan Sontags Lebenswandel und das, wofür sie seit Jahrzehnten mit ihrer Persönlichkeit wie mit ihrem kulturkritischen Schaffen steht, geht gegen den Strich alles dessen, was der konservativen Gesinnung lieb und vor allem wert ist: Feministin der beinahe nullten Stunde – hierzulande hätte man sie wohl „Emanze“ geschimpft oder „Amazone“ -, mit 17 verheiratet, mit 19 Mutter eines Sohnes, mit 26 wieder geschieden; eine Lesbe, deren Partnerin, die damals 52jährige Fotografin Annie Leibovitz, ihr im Dezember 2001 noch eine Tochter schenkte; eine intellektuelle Hedonistin, die mit Essays wie jenem über das Dandytum die Pop- und Spaßkultur salonfähig machte („Notes on Camp“, 1964; deutsch: „Camp. Ein Versuch über Nijinsky, Sexfilme, Rosenkavalier, Jugendstillampen, David Bowie, Caravaggio, De Gaulle, Greta Garbo, Jesus, Oscar Wilde, Rokokokirchen – und mehr!“ Herausgegeben von Armin Kratzert. Popa Verlag, Frankfurt am Main, 1987) und die Hermeneutik durch eine „Erotik“ der Kunst ersetzen will. In den 1980ern wurde ihre Kurzgeschichte „The Way We Live Now“ allerorten anthologisiert, so emblematisch schien sie das neue Lebensgefühl im Zeichen und Schatten der tödlichen Ansteckungsgefahr durch AIDS auszudrücken. Eine Frau auch – laut ihrem Freund und Schriftstellerkollegen Jonathan Miller „wahrscheinlich die intelligenteste Frau in Amerika“ -, deren herrisches Auftreten geeignet ist, gestandene Mannsbilder das Fürchten zu lehren und somit Martin van Crevelds Thesen von der jahrtausendealten Unterdrückung des Mannes unverhofften Nachdruck zu verleihen. 1968 reiste sie nach Hanoi, um dem vietnamesischen Volk ihre Solidarität zu bekunden – eine Aktion, die aus heutiger Sicht mit ihrem Sarajewo-Aufenthalt während des Bosnien-Krieges in einer Reihe steht, damals aber eindeutig als Provokation gemeint war und verstanden wurde. An Saddam Hussein tröstete die Jüdin, die bei Paul Tillich in Philosophie promovierte und später an der New Yorker Columbia University Religionswissenschaften unterrichtete, daß er wenn schon ein Monster, so doch wenigstens ein „säkulares“ sei. In Manhattan lebt sie der „vielen Ausländer“ wegen so gern. Und dennoch schickt sie sich an, zur Lichtgestalt, ja Fackelträgerin auch noch derjenigen zu werden, die erst über ihre ideellen Prämissen hinwegsehen müssen, um ihre Schlußfolgerungen bewundern zu können. Schon ihre Kommentare zum 11. September wurden in der JUNGEN FREIHEIT beifällig zitiert: „Bisher hat sich aber allein Susan Sontag getraut, auf diesen evidenten Zusammenhang (zwischen Imperialismus und Terrorismus) aufmerksam zu machen. (Sie) schrieb …, daß die Angriffe nur als eine ‚Konsequenz der Politik, Interessen und Handlungen der Vereinigten Staaten‘ zu begreifen seien“, hieß es am 21. September 2001 in einer Rezension von Jessica Rohrer. Diese Äußerungen, im New Yorker und hier in der FAZ veröffentlicht, trugen ihr daheim den ganz und gar nicht neckisch gemeinten Spitznamen „Osama bin Sontag“ ein. In großen Teilen der europäischen Presse, wo damals noch die Vorstellung herrschte, wir seien „alle Amerikaner“, wurden sie als „verfrüht“ und „unüberlegt“ gescholten. Am Ende sah Sontag sich zu einer öffentlichen Entschuldigung genötigt. Seither ist viel Blut durch die Wüste geflossen, und unter europäischen Intellektuellen an allen Ecken und Enden des ideologischen Spektrums gehört der Antiamerikanismus schon längst wieder zum guten Ton. Die USA, so der Konsens, mögen zwar nicht die Anschläge auf das World Trade Center mit ihren fast dreitausend zivilen Toten verdient haben, sehr wohl aber sämtliche Kritik, die in der Folge und gerade im Zuge des Irak-Krieges an ihrer Außen- und Innenpolitik laut wurde. Daß in diesem Jahr die Wahl des Börsenvereins auf die 70jährige Sontag fiel, war laut FAZ „seit langem fällig“, wirft freilich die Frage auf, ob der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels als literarische oder aber als politische Auszeichnung zu verstehen ist. Allerdings wußte schon George Orwell: „Zu meinen, Kunst sollte nichts mit Politik zu tun haben, ist bereits eine politische Einstellung.“ Die Preisurkunde ehrt Sontag als „prominenteste intellektuelle Botschafterin zwischen den beiden Kontinenten“, die „in einer Welt der gefälschten Bilder und der verstümmelten Wahrheiten für die Würde des freien Denkens eingetreten“ sei. Sie selbst sieht den Brückenbau, der ihr da angetragen wird, eher pessimistisch: Die Kluft zwischen Alter und Neuer Welt sei derzeit „so tief wie der Grand Canyon“, sagte sie vor vier Monaten in einem Spiegel-Interview. Sontag bezichtigt sich eines „unerträglichen Moralismus“, von dem nur ihre Ausflüge in die Prosa sie befreit haben. „Die Dimension des Denkens und der Wahrnehmung, das Gären der Gefühle, unser Verhältnis zum Tod – die Themen, die sie in ihren Aufsätzen so emphatisch reflektiert, lassen ihre Protagonisten blaß erscheinen. Die an Benjamin, Canetti und Barthes geschulte Lebensbeobachtung, die ihre Essays befeuert, versickert in ihren Romanen“, befindet dagegen das Feuilleton (FAZ vom 17. Juni 2003). Ihre neueste Essaysammlung „Where the Stress Falls“ (2001) soll in Kürze unter dem Titel „Das Leiden anderer betrachten“ bei Hanser erscheinen. Auf ihre Dankesrede am 12. Oktober in der Frankfurter Paulskirche darf man ebenfalls gespannt sein. In der Vergangenheit hat sich Sontag als unbequeme und undankbare Preisträgerin erwiesen. Die Verleihung des Jerusalem-Preises 2001 nahm sie zum Anlaß, Ariel Scharons Besatzungspolitik zu kritisieren. Zu erhoffen wären diesmal einige kluge Worte zur künftigen Rolle der europäischen Staaten. Daß man sich – in der Liebe wie im Krieg, lautet eine englische Redensart – seine Bettgesellen selten aussuchen kann, wird die einst so promiskuöse 68er-Linke wohl als letzte kapieren. Wenn schon ein Alain de Benoist einem Jürgen Habermas attestiert, sich „ein bißchen gebessert“ zu haben (JF 25/03), wenn ihr Landsmann Richard Rorty vom Pragmatisten zum Visionär gedeiht, darf auch Susan Sontag im Nest des zaghaft selbstbewußten neuen – oder eben doch „alten“ – Europa mitkuscheln. Widersprüche, meint sie selber, lassen sich nicht lösen, sondern nur ertragen. Foto: Susan Sontag: Sind von der „wahrscheinlich intelligentesten Frau in Amerika“ Einsichten über die zukünftige Rolle der Europäer zu erhoffen?
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