Vor einem Jahr rief die im sachsen-anhaltinischen Schnellroda ansässige Edition Antaios die Schriftenreihe „Das Luminar“ ins Leben, in der Untersuchungen, Studien und Dokumente zu Leben und Werk der Brüder Ernst und Friedrich Georg Jünger veröffentlicht werden. Als erster Band erschien im Frühjahr die ergänzte und erweiterte Ausgabe von Tobias Wimbauers „Personenregister der Tagebücher Ernst Jüngers“. Nun liegt als zweiter Band eine Übersetzung von John Kings „Writing and Rewriting the First World War: Ernst Jünger and the Crisis of Conservative Imagination 1914-1925“ vor. King untersucht in seiner Oxforder Dissertation die Vielschichtigkeit von Jüngers früher Kriegsprosa, die er als Ausdruck einer Sinnkrise der „klassischen Moderne“ versteht. Jünger lege hier Zeugnis von einer Krise ab, die aus dem Konflikt zwischen dem Weltbild seiner bürgerlichen Herkunft und seinen Kriegserfahrungen resultierte. Indem er vom unveröffentlichten Manuskript des Kriegstagebuchs ausgeht, zeigt King, wie Jünger versuchte, an den Annahmen der „klassischen Moderne“ festzuhalten, zugleich aber auch eine beträchtliche Unsicherheit zum Ausdruck brachte, die ständig seine Versuche unterminierte, den Krieg in diesem Kontext zu interpretieren. Das Selbstverständnis der Moderne wurde durch den Ersten Weltkrieg grundsätzlich erschüttert. Die Integrität des Individuums, der bürgerlichen „Persönlichkeit“, verschwand in der Anonymität der Massenarmee, durch Degradierung zum Material sowie im unpersönlichen Tod in den Kraterlandschaften der Westfront. Die Intensität der Schlacht war so groß, daß jedes kohärente Modell, die Wirklichkeit zu erfassen, sich auflöste. Die Überfrachtung mit Sinneseindrücken ließ die Gewißheit, die Welt könne angemessen wahrgenommen und verstanden werden, fragwürdig erscheinen. Den Wunsch, überlieferte Orientierungen zu reetablieren, bezeichnet King als „konservative Vorstellungskraft“. Weil die Schrecken der Erfahrung im Unterstand solchen Versuchen widerstanden, zeigen viele Reaktionen auf den Krieg Ambivalenzen und Risse, die dazu beigetragen hätten, die Sinnvorgaben der klassischen Moderne weiter zu untergraben. In den ersten Kapiteln seiner Untersuchung zeigt King, wie im späten 19. und im frühen 20. Jahrhundert die Moderne in Deutschland in eine Krisenzeit einzutreten begann. Er bezieht sich auf Georg Heym, Ernst Wilhelm Lotz und Ernst Stadler als Beispiele aus der Vorkriegszeit, um dann zu zeigen, wie Otto Dix, Rainer Maria Rilke und Thomas Mann den Kriegsausbruch als verjüngendes „Stahlbad“ begrüßten, das eine verlorene Authentizität wiederherstellen könnte. Diese Bezüge macht King auch anhand von Jüngers Biographie sichtbar. Er zeigt, wie der wilhelminisch geprägte Apothekersohn nach dem Krieg unter einem Gefühl der Zusammenhangs- und Orientierungslosigkeit litt. In einem zentralen Kapitel analysiert King dann das Manuskript des Kriegstagebuchs, in dem Jünger zwischen 1914 und 1918 seine Erfahrungen und Beobachtungen festhielt und das in späterer Bearbeitung die Basis für „In Stahlgewittern“ bildete. Damit bietet er die erste wissenschaftliche Analyse dieses Textes, der als Teil seines „Vorlasses“ 1996 zugänglich wurde. Jünger selbst erteilte ihm die Erlaubnis dazu. Das originale Tagebuch stellt ein bemerkenswertes Kriegsdokument dar: peinlich genau in der Beschreibung der Ereignisse und Impressionen, oft merkwürdig unpersönlich im Ton. Die sechzehn Notizbücher, die es umfaßt, versuchen die „Materialschlacht“ mit fast wissenschaftlicher Präzision aufzuzeichnen. Mit der vielzitierten „Kälte“ eines distanzierten Beobachters sammelt der naturkundlich vorgebildete Frontsoldat Eindrücke. Dabei ist er bemüht, seine Stellung als heroisches Subjekt in einer verstehbaren und erkennbaren Umwelt beizubehalten. Gleichzeitig erkennt Jünger aber die Ungeheuerlichkeit der Veränderungen, die durch den industrialisierten Krieg herbeigeführt werden. Er ringt um eine geschlossene Erzählung seiner Kriegserfahrungen, doch sie lassen ihn am autonomen Selbst und der Erfaßbarkeit der Welt zweifeln. Die Sinnkrise, die King in den ersten Kapiteln analysiert, ist hier in jedem Satz präsent. Auch in späteren Fassungen der „Stahlgewitter“ gelangen die widersprüchlichen Elemente keineswegs zur Synthese. Trotz eindrucksvoller Kriegsdarstellung gesteht Jünger letztlich ein, daß große Erfahrungsfelder sprachlich nicht zu erfassen sind. Deswegen habe der sich der entlassene Offizier seit Mitte der zwanziger Jahre mehr der „Aktion“ als der Literatur zugewandt. Auch diese Phase von Jüngers Schaffen stehe mit der Sinnkrise der Moderne in Verbindung. Bei Jünger und anderen Autoren der „Konservativen Revolution“ habe es sich um einen Versuch gehandelt, die Moderne neu zu begründen. Gegen den drohenden Sinnverlust hätte man ein einheitliches kollektives Subjekt, die Nation, behauptet, wie die Figur des Frontkämpfers bei Jünger eine modifizierte Rückkehr der Individualität anzeige. Leider fehlen in Kings Bewertung der Forschungsliteratur zu Jünger relevante Studien der letzten Jahre. So wäre eine Auseinandersetzung mit Volker Mergenthalers Analyse der Authentizität der frühen Kriegsprosa sicherlich lohnend gewesen. Auch holt King an manchen Stellen sehr weit aus, um Jünger historisch zu rekontextualisieren. Statt zu versuchen, diesem Frühwerk eine künstliche Einheitlichkeit aufzuzwingen, hat King eine Studie vorgelegt, die der Vielschichtigkeit und Komplexität des Jahrhundertautors gerecht wird. Durch den Vergleich mit den originalen Kriegstagebüchern hat er die Möglichkeit gehabt – und genutzt -, diejenigen Widersprüche zu lokalisieren, die von der bisherigen Forschung meist ignoriert oder nicht in ausreichendem Maße erklärt wurden. Der Antaios Verlag hat dank der gelungenen Übersetzung von Till Kinzel ein wichtiges Werk der Jünger-Forschung dem deutschen Leser zugänglich gemacht. Erster Weltkrieg – deutsche Soldaten im Schützengraben: Verstört durch die ungeheuerlichen Veränderungen des industrialisierten Krieges John King: „Wann hat dieser Scheißkrieg ein Ende?“ Writing and Rewriting the First World War. Das Luminar. Schriften zu Ernst und Friedrich Georg Jünger, Bd. 2. Edition Antaios, Schnellroda 2003, broschiert, 320 Seiten, 30 Euro; gebunden, 45 Euro (nur über Subskription)