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Verlogene Komplizenschaft

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Es gibt Städte in Deutschland, die nicht nur zahlreiche Probleme haben, wie zum Beispiel Frankfurt am Main, sondern die vor allem und in erster Linie selbst das Problem sind. So hat kein Geringerer als Fassbinder schon vor Jahren der verwüsteten, der toten, der Unstadt Frankfurt am Main ihr adäquates Heimatstück geschrieben, „Der Müll, die Stadt und der Tod“. Den Skandal der verhinderten Uraufführung aufzuarbeiten, den siegreichen Angriff auf die Freiheit der Kunst und die Verdrängung eines Frankfurter Themas aus dem öffentlichen Diskurs, hat dem Schauspiel Frankfurt unter wechselnden Leitungen Mut und Weitsicht gefehlt. Hat die Frankfurter Gesellschaft ein Stück, das sie nicht haben will, will sie nun ein Stück haben, das sie nicht haben kann. Denn die hinterlassene „Untertreibungskomödie“ (so der Untertitel) „Die Frankfurter Verlobung“ des im März 2002 gestorbenen Kabarettisten Matthias Beltz (JF 15/02) ist nur scheinbar der Entwurf zu einem Stück, in Wahrheit ein Solo, das während der Proben erst hätte ausgearbeitet werden müssen, mit drei oder fünf Stichwortgebern, denen nun der Solist abhanden gekommen ist. Was da im voraus zu einem Großereignis hochgeredet wurde, bei dem ein jeder sein Fett abbekäme, das stellt sich bei näherem Hinsehen als herbstlich larmoyante Vergangenheitsaufarbeitung heraus. Es ist hohe Zeit, Gerhard, der Alt-Achtundsechziger, Rechtsanwalt natürlich, will die Verlobung mit Bille, einer geschiedenen Kinderärztin, feiern. Deren Sohn Johannes, BWL-Student und Moderechter, bringt seine Freundin Mascha, Karrierejournalistin, mit, und alle, alle warten auf den Jürgen, Gerhards alten Jugendfreund, den Minister, der sich auf Kanister reimt, einstens einen Molotow-Cocktail auf einen Polizisten geworfen haben soll, letztens Bomben auf Zivilisten werfen ließ und heute abend, morgen und überhaupt nicht mehr kommen wird. Wir schreiben nämlich den 11. September, den Geburtstag Theodor W. Adornos und Franz Beckenbauers, den Todestag Salvador Allendes, und insbesondere schreiben wir den 11. September des Jahres 2001, nach dem nichts mehr so sein soll, wie es vorher gewesen ist, weil wir alle heute ein Stück weit Amerikaner zu sein hätten – oder so ähnlich. Der Minister hat zu tun, die vier in der Wohnung haben ebensowenig zu tun wie das strunzdumme Polizistenpaar, das den Ort des Geschehens oder die Straße oder den Zuschauerraum zu sichern hat. Zu sichern gab es nichts und niemanden, haben doch Regisseur Anselm Weber und Dramaturg Jens Groß von vornherein alle und alles nach allen Richtungen hin abgesichert. Es gibt kein richtiges Theater, das politisch korrekt wäre. In Anselm Webers Theater sind selbst noch die Inkorrektheiten korrekt gesetzt. Die Welt des Bühnenbildners Raimund Bauer ist eine Scheibe, und die Scheibe ist so klein, daß nur ein ovaler Familientisch samt Stühlen darauf Platz hat. Außerhalb der Scheibe haben die Zeichen die Welt überlebt: Küche, Balkon- und Schlafzimmer, Bad und Treppe, Fernseher und Idyll gibt es nunmehr in Versalien. Die Welt der Inszenierung ist eine Gassenbühne, wo es Auftritte und Abgänge gibt, Beethovens Fünfte am Anfang und am Ende Beethovens Neunte, Monologe, Dialoge und Gespräche – nur keine Handlung, nicht einmal Beckettsches Warten, weder Figuren noch Typen, weder Komödie noch Kabarett. Edgar Selge versucht der Figur des Gerhard Tiefe zu geben, weiß aber nicht, woher er sie nehmen soll, Franziska Walser als Bille sowie Peter Moltzen und Katrin Grumeth als junges Paar können sich weder für Kunst- noch für Alltagssprache entscheiden, was ein seltsam gestelztes, auf natürlich frisiertes Sprechen ergibt. Vollends von der Regie im Stich gelassen, denunzieren Michael Lucke und Jan Neumann die beiden Polizisten als rhetorische Pappkameraden. Im Mittelpunkt des Premierenabends standen nicht das Stück, nicht die Inszenierung, nicht die Schauspieler, ja, nicht einmal die verhandelten Probleme. Wie wunderbar, daß der reale Minister, der „Joschka“, obzwar angekündigt, nicht kommen konnte: Fehlt der hellste Stern, erglänzen die matten wie die längst erblindeten Sternchen um so heller. Die untote Kulturprominenz der alten Bundesrepublik samt Großfeuilleton gab sich die Ehre, indem sie vorgab, Matthias Beltz die Ehre zu geben. Man hörte die Mühlsteine von den Herzen derer fallen, die sich bereits als potentielle Satireopfer gewähnt hatten und von Autor und Regie vor sich selbst und ihrer Vergangenheit wohlbeschützt wurden. Wer hätte gedacht, so billig davonzukommen? Obwohl Beltz durchaus milde kritisert, was aus den Achtundsechzigern und Häuserkämpfern der Siebziger geworden ist, kann er doch nicht von deren Mythos lassen, sie wären heute andere, als sie damals gewesen sind. Was sie damals schon waren, das stand damals schon bei dem ebenso häufig zitierten und parodierten wie unverstandenen Adorno zu lesen – nicht ihr Vordenker, sondern eines ihrer ersten Opfer! -, und das steht vielleicht in einem der Suhrkamp-Taschenbücher zu lesen, die in allen Regenbogenfarben von dem bürgerlichen Buffet im Bühnenhintergrund leuchten, aber der Regisseur läßt Gerhard nur einmal kurz darin blättern. Als sie dann endlich fallen darf, ist die Pointe des Stücks längst schon verraten, war doch das magische Datum von allem Anfang an im Spiel. Die Nachricht vom Fall des WTC wird über Ton eingesprochen, die Zuschauer halten pflichtschuldigst den Atem an, und da kommt für einen Moment Hoffnung auf, daß die verlogene Komplizenschaft zwischen Regie und Premierenpublikum endlich aufgekündigt würde und Satire zu großer Form aufliefe. Doch jeder diesbezügliche Kalauer ist längst gekalauert, und die sentimental-verlogenen Reaktionen in Politik und Öffentlichkeit durch keinen noch so guten Witz einzudämmen. Also muß Mascha zu einem rührend-hilflosen Appell an die Frauen dieser Welt im Publikum ausholen, von der halb unter-, halb überforderten Katrin Gru-meth brav aufgesagt. Keine Elektra erklärt aus dem Mund Ophelias, an den Rollstuhl gefesselt, den Metropolen der Welt den Krieg, kein reicher Jude Namenlos verkündigt der Stadt ihr Todesurteil. Das Herzchen Mascha lispelt von heimatlosem Geschlecht, zum Wir nicht fähig, von Illusionslosigkeit, von Revolution und Küche. Letzte Worte, die man mit gebrochenem Herzen schreibt. Der Zuschauerraum des Kleinen Hauses liegt eine Treppe unter der Erde, im Kellergeschoß des Schauspielhauses- zu tief für Tiefflieger. Die nächsten Vorstellungen im Schauspiel Frankfurt, Neue Mainzer Landstr. 17, finden statt am 5., 9., 16. und 30. März.

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