Zum wiederholten Mal ist die Universitätsstadt Göttingen als ein Hort geistiger Intoleranz und politischer Unreife in die Schlagzeilen geraten. Im Literarischen Zentrum der Stadt war für den 11. Oktober ein öffentliches Gespräch mit dem Schriftsteller Martin Walser geplant. Diese Veranstaltung mit dem Friedenspreisträger von 1998 rief sogleich die üblichen linken Gruppen auf den Plan, die lautstark ihre Betroffenheit hinausposaunten: In einem offenen Brief bezichtigte man Walser der Verwendung "nationalistischer und antisemitischer Stereotype" und verlangte, den Schriftsteller wieder auszuladen. Zuständig für die Frage, wem das Recht auf freie Meinungsäußerung zustehe und wem nicht, fühlten sich neben dem kommunistischen VVN/BdA eine "Geschichtswerkstatt", Die Falken, der "Verein zur Förderung antifaschistischer Kultur" sowie der örtliche DGB-Vorsitzende. Flankiert wurde die Aktion durch eine Verlautbarung der "Autonomen Antifa", die mitteilte: "Wir nehmen die Provokation an und rufen zur Blockade auf!"
Die Drohung verfehlte ihre Wirkung nicht: Walser sagte sein Kommen mit der Begründung ab, er wolle nicht in einen "akustischen Wettbewerb mit parolenbrüllenden Leuten" treten. Daß es vor einer Lesung und "so massiv wie in Göttingen" derartige Proteste gibt, habe er noch nicht erlebt, sagte Walser auf Nachfrage der JUNGEN FREIHEIT. Außerdem bekannte der Schriftsteller im Gespräch mit dieser Zeitung, daß er eine Veranstaltung unter Polizeischutz für "nicht akzeptabel" halte.
Damit ist in Göttingen nach den Störungen, die die Antifa anläßlich einer Lesung von Jörg Friedrich im März initiiert hatte (JF 11/03), zum zweiten Mal innerhalb eines halben Jahres ein Grundrecht unter Androhung von Gewalt mit Füßen getreten worden. Zwar bedauerte das Literarische Zentrum als Veranstalter die Störungsandrohungen und berief sich auf eine Stellungnahme der jüdischen Publizistin Ruth Klüger, die feststellte, man verbiete "niemandem das Wort und schon gar nicht einem der prominentesten Schriftsteller Deutschlands". Und die CDU-Fraktion im Stadtrat beklagte die "traurige Diskussionsunwilligkeit und ausgeprägt selektive Auffassung von Meinungsfreiheit einiger Gruppen in Göttingen". Doch ansonsten blieb es ruhig in der "Stadt, die Wissen schafft" (Eigenwerbung).
Die von Martin Walser gegenüber der JUNGEN FREIHEIT geäußerte Hoffnung, daß "man in Göttingen mal darüber diskutiert", ist jedenfalls nicht in Erfüllung gegangen. Überfällig ist eine solche Debatte schon lange.