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Pankraz, Goethes Röslein rot und die Volksmusik

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Es läßt sich nicht mehr überhören: Wir leben musikalisch im Zeichen des Volkslieds und der Volksmusik. Jazz, Blues, Pop, Rap, Hip-Hop – all das ist längst Ghettogeräusch, eingeschränkt auf bestimmte Milieus, "Jugendszene", Bravo, MTV. Die Dinge dort laufen auch längst nicht mehr so gut wie in alten Zeiten. Die Umsätze stagnieren, die Fan-Gemeinden schrumpfen. Das große Geschäft ist zur "volkstümlichen Musik" abgewandert.

Eine ungeheure Hausse ist ausgebrochen. "Volkstümliche Klänge" auf sämtlichen Kanälen. Immer neue Gruppen tauchen auf und verschwinden so bald nicht wieder. Was nicht sofort in die großen Arenen und ins Fernsehen kommt, verkrümelt sich ins einfache Vereinsleben. Lieder-Chöre, Trachtenkapellen und Volkstanzgruppen schießen wie die sprichwörtlichen Pilze aus dem Boden. Berühmte Opernsänger haben Witterung aufgenommen und erweitern ihre Verdienstmöglichkeiten, indem sie "in die Volksmusik einsteigen".

Auch "Highbrows", Eierköpfe, nehmen sich der Sache an und starten halbgelehrte Unterhaltungsserien zur besten Sendezeit, wo nicht nur gejodelt, gezittert und gefiedelt wird, sondern wo man auch dies und das über die Geschichte der Volkslieder erfährt, zum Beispiel daß "Sah ein Knab ein Röslein stehn" keineswegs von Goethe gedichtet wurde, sondern schon Jahrhunderte früher bekannt war, und daß Volksliedsammler Herder seinem Freund Goethe das "Röslein" eines Tages regelrecht "geschenkt" hat.

Das Leipziger "Grufti-Festival" alljährlich zu Pfingsten hat sich still und leise zu einem lupenreinen "Folk-Festival" gemausert, also zu einem Volkslied-Festival, auch wenn der "Folk", der dort geboten wird, nicht mit dem herkömmlichen Volkslied identisch oder auch nur kompatibel ist. "Folk" ist sperrig, ambitiös, über weite Strecken den dunklen Seiten des Daseins zugewandt, oft auch aggressiv und politisch unkorrekt. Dennoch teilt er mit dem Volkslied so manches.

Die "Folk"-Gruppen, die jeweils in Leipzig auftreten, kommen aus allen Himmelsrichtungen und vielen Ländern; das Klima der Treffen ist wahrhaft international. Aber der "Folk" selbst ist nicht international, seine Hervorbringungen sind national oder regional geprägt und beharren ausdrücklich auf dieser Prägung, widersetzen sich dem Wischiwaschi-Gleichklang, der bei Viva oder MTV tagtäglich erzeugt wird. Darin also liegt die Nähe des "Folk" zum Volkslied. Denn auch dieses widersetzt sich, sogar wenn seine neueren Produkte seicht sind und ungeniert mit der Wurst nach der Speckseite des Massengeschmacks schmeißen.

Die gegenwärtige Volkslied- und Volksmusikwelle hat eindeutig eine politische und zeitgeistliche Dimension. Die Leute, die in Volkslied-Chöre eintreten oder sich in die volkstümlichen Sendungen der Dritten Programme einschalten, wehren sich damit instinktiv gegen den Globalisierungsdruck, der von der herrschenden Politik erzeugt wird, und sie demonstrieren – sanft, aber energisch – einen zähen Beharrungswillen, der sich nicht um Heimat und Herkunft, Sprache und Landschaft bringen lassen möchte. Was äußerlich als bloße Unterhaltung nach Feierabend einherkommt, ist bei Lichte betrachtet eine hochraffinierte psychologische Querkopf- und Ausgleichshandlung, eine "Kompensation" im Sinne Hermann Lübbes oder Odo Marquards.

Man kann das nicht zuletzt daran sehen, das bisher alle Versuche seitens bestimmter Aufpasser und "Gutmensch"-Apostel, die volkstümlichen Sendungen im Sinne der berüchtigten "Political Correctness" zu beeinflussen und umzuformen, gescheitert sind. Eine Zeit lang bemühte man sich, die Genres zu vermischen, gewissermaßen Herzbuben und Eminem unter das Dach einer einzigen Veranstaltung zu zwingen, es gab zu Anfang der Welle während der Sendungen gelegentliche Aufrufe "gegen Fremdenfeindlichkeit" usw., doch das alles schlief bald vollkommen ein. Die Veranstalter bekamen intensiv zu spüren, daß dergleichen nicht erwünscht war, daß das Volk bei anhaltender Indoktrination einfach wegbleiben würde.

Würde es auch wegbleiben, wenn die geistige Ambition sich verschärfte, wenn man Text und Melodie der Lieder, die bei den großen Unterhaltungssendungen gesungen werden, vorsichtig in Richtung "Folk" vertiefte und ausbaute? Fakt ist, daß sich im Genre speziell des deutschen Volkslieds einstmals Geist und Leben, Ambition und Volkstümlichkeit in großartiger Weise ergänzt und gegenseitig beflügelt haben.

Texte bzw. Melodien der größten Dichter und Komponisten wurden fast ohne "Abschleifung" und Niveauverlust zu echten Volksliedern, umgekehrt haben Herder, Goethe und die Romantiker mit Leidenschaft "originale" Volkslieder gesammelt, bearbeitet und zu hoher Literatur geadelt. Schubert, Schumann und Wolf haben sie vertont, Es war eine einmalige Synthese, die freilich eine besondere historische Konstellation zur Voraussetzung hatte und nicht so schnell wiederkommen dürfte.

Aber auch Zwerge haben bekanntlich klein angefangen. Und keineswegs alles, was man in den volkstümlichen Sendungen von heute zu hören bekommt, reimt sich ausschließlich auf Herz/Schmerz, Zuhaus/Blumenstrauß, es gibt keineswegs nur Schrummschrumm und Dominantseptakkord. Manchmal ist durchaus ein Bemühen um Originalität und um ein Zusammenbringen von Herkunft und Zukunft zu vernehmen.

Was gebraucht wird, sind gute Texter (Dichter) und Komponisten, nicht nur Arrangeure von Versatzstücken, weiter mutige Veranstalter und Programmdirektoren. Eigentlich sollte daran kein Mangel sein, denn das Geschäft lohnt sich im Augenblick, man kann etwas verdienen, die Volksmusik "boomt". Hoffentlich platzt die Blase nicht demnächst, wie schon so manche andere Blase.

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