Wir brauchen Bill Clintons Saxophon!", stöhnte ein prominenter Zeitbeobachter. "Wer gibt uns den Bläser Bill Clinton zurück?" Der Mann meinte es natürlich bildlich. Und alle wußten sofort, was er sagen wollte: "Wenn schon führende Weltmacht, dann bitte auf lustig! Anders läßt sich das Leben unter einer einzigen Weltmacht doch gar nicht ertragen."
Vor Tisch las man es selbstverständlich anders. Bill Clinton ist als "Präsident Filou" in die Zeitgeschichte eingegangen, man genierte sich seiner damals in führenden Kreisen. "Er hat das Weiße Haus zum Freudenhaus gemacht", donnerten gleich mehrere US-Senatoren, und auch die europäischen Verbündeten verhüllten ihr Haupt angesichts der ständigen Kamera-Armeen vor eben diesem Haus, die begierig auf immer neue Enthüllungen über die "Blas-Affäre" mit Monika Lewinsky warteten. Auch Pankraz hat sich seinerzeit (in Maßen, sehr in Maßen) aufgeregt. "So sollte man kein großes Reich regieren."
Aber wie soll man es denn regieren? Was uns nach Clintons Abgang beschert wurde, ist gewiß nicht das Gelbe vom Ei. Zwar erging unter George W. Bush sofort der Ukas, daß nun im Weißen Haus wieder Schlips und Kragen zu tragen seien, daß es mit den lustigen Praktikantinnen-Spielchen im "Oval Office" ein für allemal vorbei sei und zu Beginn jedes Arbeitstags fortan ein gemeinsames Gebet aller Mitarbeiter an Gott Unseren HERRN stattzufinden habe. Doch zeigte sich schnell, daß man lediglich das lustige Teufelchen gegen den grämlichen Beelzebub ausgetauscht hatte. Man blieb, um mit Sigmund Freud zu sprechen, durchaus im Bereich der Triebe, hatte logischerweise nur den Sexualtrieb zum Todestrieb weiterentwickelt.
Eine Rhetorik griff um sich (und zwar schon lange vor dem 11. September), die einzig vom Krieg und immer wieder nur vom Krieg handelte und die sich von Monat zu Monat zu schrilleren Tönen steigerte. So etwas hatte es bisher in Amerika noch nie gegeben, im Ersten Weltkrieg nicht und im Zweiten Weltkrieg nicht und während der Berliner Luftbrücke oder während der Kubakrise auch nicht.
In den großen Networks wurde ungeniert der Einführung der Folter zur Erpressung von Geständnissen gegen Kriegsgefangene das Wort geredet. Man sprach vom "Folterexport in befreundete Länder". Man drohte damit, künftig "im Zuge der Durchführung unserer neuen Herrschaftsdoktrin" auch vor dem Einsatz von Atomwaffen gegen mögliche Konkurrenten nicht zurückzuschrecken. Und der Urheber dieser Schreckensrhetorik saß unübersehbar im Weißen Haus. Es war der Präsident selbst. Er blies nicht mehr das Saxophon, sondern haute auf die Pauke.
Man kann die Sehnsucht vieler Zeitgenossen nach Bill Clinton also verstehen. Selbst diejenigen, die sagen, daß der "Unilateralismus" und "Imperialismus" der USA bereits unter Clinton seine neuartigen Züge gezeigt hätte (Bombardements trotz unerklärten Krieges, Streubombeneinsatz, Ignorierung der Uno bei Eröffnung eines Krieges usw.), sie räumen ein, daß dieser Unilateralismus Clintons gewissermaßen ein menschliches Gesicht gehabt habe, so wie einst der Kommunismus vor 1968 unter Dubcek in Prag, der ja ausdrücklich als "Sozialismus mit menschlichem Antlitz" apostrophiert wurde.
Der Ton macht eben die Musik, auch und nicht zuletzt in der Politik, die – wie schon die alten griechischen Sophisten wußten – zum großen Teil, vielleicht sogar zum größten Teil, aus Rhetorik besteht. Es geht dabei gar nicht in erster Linie darum, ob man eine Sache brutal-offen ausspricht oder sie geschickt-gnädig verschleiert (obwohl auch dies eine Rolle spielt). Entscheidend ist, daß man, sowohl im nationalen wie im internationalen Rahmen, ein rhetorisches Niveau zu etablieren versteht, das allen, den Siegern wie den Unterlegenen, den Großen wie den Kleinen, die Chance bietet, sich gleichsam darauf zu bergen, sich ebenbürtig und ernstgenommen zu fühlen, im genauen Sinne "mitzuspielen".
Stets wenn solche rhetorische Verabredung und Niveau-Sicherung fehlte, dann nahm die Politik nach Meinung der alten Sophisten nicht nur Schaden, sondern sie hörte überhaupt auf, Politik zu sein. Deshalb auch die Überzeugung, daß nur in der "ecclesia", in der griechischen Volksversammlung mit ihren rhetorischen Eskapaden, Politik möglich sei.
Was die persischen Großkönige oder die ägyptischen Pharaonen unternahmen, das war keine Politik, sondern das war – bei allem Respekt vor der Macht und dem Glanz dieser Herrschaften – barbarische Willkür. Denn die Großkönige und die Pharaonen verlautbarten nur, verkündeten nur, befahlen nur, riefen allenfalls noch die Götter an, aber sie sprachen nicht eigentlich.
So betrachtet, war Präsident Clinton ein "richtiger" Politiker, er blies bekanntlich nicht nur das Saxophon, sondern war in seiner aktiven Zeit eine echte Silberzunge, charmierte seine Partner, ob sie nun Gegner oder Verbündete waren. Er hatte es freilich auch leicht, weil er einer Periode des Aufschwungs vorstand, als die "New Economy" bei vielen die Illusion eines ewigen allgemeinen Aufschwungs erzeugte und man es mit Dein und Mein, Oben und Unten nicht so genau zu nehmen brauchte wie heute.
Inzwischen haben sich die Dinge geändert, und der neue Primus im Weißen Haus versucht, dem Rechnung zu tragen. Es will ihm aber nicht gelingen, und die Töne, die er laut werden läßt, nähren die Vermutung, daß es ihm auch künftig nicht gelingen wird. Er ist ein Großkönig, ein Pharao, kein "richtiger" Politiker, mithin ein Fossil in einer Zeit, die so durch und durch politisiert ist wie die unsere. Bush will die Welt demokratisieren, kann sie jedoch nicht politisieren. Das ist fatal. Denn nicht ohne Grund waren "Demokratie" und "Politik" im alten Athen dasselbe.