Rekonstruieren, wie ich Beethoven als Kind gehört habe“, heißt eine der frühesten überlieferten Notizen Theodor W. Adornos zu seinem ungeschriebenen Beethoven-Buch. Keine andere Musik hat so sehr als Projektionsfläche außermusikalischer Inhalte herhalten müssen wie die Symphonik Beethovens. Und wenig andere Musik nach Beethoven hat gegensätzlich motivierte Besitznahme so sehr herausgefordert wie diese – nach dem abfälligen Wort eines Dissidenten der Zweiten Wiener Schule – „Weltanschauungsmusik“. Das Geheimnis ihrer gemeinschaftsbildenden Kraft hat sie alle fasziniert: Wissenschaftler wie Politiker, von Paul Bekker bis Adorno, von Lenin bis Hitler. Gehört Beethoven denen, die ihn hören? Und wer hört ihn wie zu welchen Zeiten? Der deutsche Dirigent Eugen Jochum hat Beethovens neun Symphonien zwischen 1952 und 1961 für die Schallplatte eingespielt, Nr. 2 bis 4 und 6 bis 8 mit den Berliner Philharmonikern und Nr. 1, 5 und 9 mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, das Jochum 1949 gegründet hatte und dem er bis 1960 als Chefdirigent vorstand. Diese Aufnahmen liegen jetzt zum ersten Mal geschlossen auf CD vor (Deutsche Grammophon 474018-2), und zwar direkt von den Originalbändern überspielt, innerhalb einer in limitierter Auflage erscheinenden Serie „Original Masters“ mit Wiederveröffentlichungen aus den Archiven der Deutschen Grammophon. Die Gestaltung von Beiheft und Schachtel unter Verwendung einer Federzeichnung von Ingrid Schaar, die den alten Jochum während eines Dirigats im Münchner Herkules-Saal zeigt, spielt ironisch-ernsthaft mit den graphischen Mitteln der fünfziger Jahre. Zu weit liegen die Aufnahmesitzungen der Symphonien zeitlich auseinander und zu absichtslos auch scheint ihre Abfolge, als daß Jochum der Gedanke einer zyklischen Konzeption zu unterstellen wäre. Gegen Furtwänglers schicksalsversessenen wie Toscaninis entromantisierten Beethoven tritt Jochum gar nicht erst an, und die umstürzenden Einspielungen durch René Leibowitz erschienen vollständig erst in den sechziger Jahren. Entschlackt von Ideologien und ohne dem Schicksal in den Rachen greifen zu wollen, sucht Jochum jede Symphonie in ein je eigenes Licht zu setzen – von Herzen, auf daß es zu Herzen gehen möge. Geradezu spielerisch betriebsam spult die durchbrochene Themenarbeit ab, etwa im Kopfsatz der 5. Symphonie, oder poltern die Scherzi der 2. und 4. einmal keck, ein andermal eingeschnappt daher, überspringt der Tanz der 7. leichtfüßig alle Abgründe, die ihn erst möglich und notwendig machten. Wo aber Jochum seine Erfahrungen mit den Werken Bruckners einbringt, ist er dem Erleben Beethovens näher als dort, wo er sie verleugnet. Die geheimnisvolle Einleitung zur 4. Symphonie oder die heilig nüchterne Ergebung des Hirtengesanges der „Pastorale“, die sich von heiter gelöstem Schreiten zu erhabenem Trauermarsch verdichtende Allegretto-Weise der 7. und ihre Auflösung gemahnen an Brucknersche Adagios wie auch einige Momente der ansonsten statisch abgefeierten 9., deren Schlußchor wie ein weitläufiger Verwandter Brucknerscher Messen klingt. Noch einmal ganz von vorn beginnen zu können, das musikalisch Seiende aus dem Nichts zu entwickeln und sich um sein Gewordensein nicht mehr bekümmern zu müssen, fern der Frühstückspausen-Bespielung von Munitionsfabriken, fern auch der Geschwindmarsch-Attacken, welche die Feinde zu Hauf treiben: Ihr unbedingter Wille zur Freude kennzeichnet Jochums Beethoven-Interpretation als eine des bundesdeutschen Wirtschaftswunders. Nicht, wie ein Kind Beethoven hören würde, aber in manchen musikalischen Momenten nahe daran.