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In Gedanken versunken

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Anläßlich des fünften Todestages Ernst Jüngers erschien in der JUNGEN FREIHEIT vom 21. Februar ein Beitrag von Ulrich Beer, der für Aufsehen und ungläubiges Erstaunen in weiten Teilen der Jünger-Lesergemeinde sorgte. Unter dem Titel „Stundenlang wortlos geweint“ schilderte der Psychologe und Psychotherapeut Beer eine Begebenheit, die Zweifel an ihrer Richtigkeit hervorgerufen hat. Zitat: „Ein Freund von mir flüchtete in den ersten Apriltagen des Jahres 1945 als Flakhelfer vor den Panzern der alliierten Sieger bei ihrem Einmarsch nach Hannover auf der Straße zwischen Celle und Hannover in irgendein Haus und versteckte sich auf dem Dachboden. Es war das Pfarrhaus von Kirchhorst, in dem die Jüngers zu dieser Zeit wohnten. Gretha Jünger entdeckte den jungen Flüchtling in seinem Versteck, nahm ihn in die Hausgemeinschaft auf und fütterte ihn mit durch. Der Name Ernst Jünger sagte ihm damals noch nicht viel, aber er kann sich auf einige beeindruckende Gespräche besinnen – vor allem aber darauf, daß Jünger täglich von den Besat-zern abgeholt und ins KZ Bergen-Belsen gebracht wurde, damit er mit eigenen Augen die Folgen des Verbrechens sehe. Er sei tief erschüttert zurückgekommen und habe Stunden hindurch weinend und wortlos vor Trauer dagesessen. Als ich Ernst Jünger später mit diesem Freund zusammen besuchte und er ihn an das Erleben jener Tage erinnerte, wußte Jünger nichts mehr davon. Offenbar war der Schmerz zu groß gewesen und das – ohne jeden Zweifel bezeugte – Erleben von ihm verdrängt worden. Der Freund – später Leiter einer großen Stuttgarter Frauenklinik – hätte keinen Grund gehabt, Derartiges zu erfinden.“ Soweit der Bericht von Ulrich Beer. Seine Schilderung nannte die Kustodin im Ernst Jünger Haus in Wilflingen, Monika Miller, in einem Leserbrief an die JF eine „Märchenstunde“; andere Leser reagierten ebenfalls und fragten in der Redaktion an, ob die Geschichte denn stimme. Daraufhin hat sich die junge freiheit auf Spurensuche begeben und jenen Mann ausfindig gemacht, von dem Ulrich Beer erzählt hat. Es handelt sich um Erich Hermann, geboren 1925 in Stuttgart, Facharzt für Gynäkologie, der bis zum Jahr 2000 als Chefarzt seine eigene Frauenklinik mit 55 Betten leitete. Auf Anregung dieser Zeitung hat Erich Hermann jetzt seine Erinnerungen an die Zeit vor bald sechzig Jahren niedergeschrieben, die wir hier mit seiner freundlichen Erlaubnis veröffentlichen. Thorsten Thaler Schon als Zehnjähriger hatte ich eine Art virtuellen Kontakt zu Ernst Jünger, denn ich hatte seine Bücher „In Stahlgewittern“ sowie „Das Wäldchen 125“ gelesen. An ersterem hatte ich mich geradezu berauscht. Es folgten dann noch andere Bücher, wie etwa das auf dem Index stehende Buch von Erich Maria Remarque „Im Westen nichts Neues“ oder über Peter Strasser, den „Führer der Luftschiffe“, und besonders auch das Buch „Alarm – Tauchen“ über den U-Bootkrieg des Ersten Weltkriegs. Als ich 15 Jahre alt war, brach der Krieg aus, und ich hatte große Angst, nicht mehr rechtzeitig den Heldentod – nicht für Hitler, für das Vaterland – sterben zu können. Es war wohl das Alter, in dem Todessehnsucht noch eine Rolle spielt. Deshalb hatte ich zu wählen, entweder zu den U-Booten oder zur Luftwaffe zu gehen. Nun hatte ich aber schon mit 13 Jahren mit Segelflug begonnen und alle nur denkbaren Segelflugprüfungen hinter mich gebracht. Daß ich zur Flieger-HJ ging, hatte neben meiner fliegerischen Leidenschaft auch damit zu tun, daß ich aus einem streng pietistischen Elternhaus mit größten Aversionen gegen Hitler kam. Bei der Flieger-HJ war jedoch, wie auch in der späteren Luftwaffe, alles viel legerer und weniger ideologisch. Ich kann mich nicht entsinnen, daß ich während meiner Zeit in der Flieger-HJ auch nur ein einziges Mal eine Uniform getragen oder an Aufmärschen teigenommen hätte. Da ich Pilot werden wollte, mußte ich mich freiwillig zum Kriegsdienst melden, was ich kurz vor meinem 17. Geburtstag mit der gefälschten Unterschrift meinesVaters tat. Nach dreimonatigem Arbeitsdienst ging ich nach Frankreich auf eine Pilotenschule, machte dort meinen A- und B-Flugschein und besuchte dann in Kopenhagen-Kastrup die Blindflugschule, um nach deren Beendigung zur Nachtjagd zu wechseln. Kurz vor Ausbildungsschluß im Frühjahr 1945 sperrten uns die Dänen die Zufuhr des Flugbenzins, so daß der Flugbetrieb zum Erliegen kam. Letzte Kämpfe an der Ostfront Es ging dann heim ins Reich und zwar nach Halberstadt, wo wir auf Düsenflugzeuge umgeschult werden sollten. Um mit den neuen Maschinen vertraut gemacht zu werden, führte man uns in eines der unterirdischen Flugzeugwerke im Harz, und zwar in den berühmten Stollen „Dora“, in dem ich zum ersten Mal Menschen in Sträflingskleidern sah, die hier Flugzeuge im Akkord zusammenbauten. Hier fiel auch erstmals der Begriff Konzentrationslager. Am 8. April 1945 gab es dann einen schweren Luftangriff, der nicht nur Halberstadt in Schutt und Asche legte, sondern auch unseren Fliegerhorst. In der Zwischenzeit war die Ostfront an die Oder zurückgenommen worden und wir im Schnellverfahren in das 1. Fallschirmjägerregiment eingegliedert worden. Von Halberstadt ging es dann in täglichen Fünfzig-Kilometer-Fußmärschen über Angermünde nach Schwedt an der Oder und ohne jede infanteristische Ausbildung, die wir als Piloten nie genossen hatten, mitten in die sehr verlustreichen Schlachten auf den Seelower Höhen. Kurz vor dem berüchtigten Durchbruch bei Halbe war meine Einheit völlig aufgerieben worden und ich in russische Gefangenschaft geraten, der ich aber nach kurzer Zeit entkommen konnte, um wieder vor Berlin zu eigenen Verbänden zu gelangen. Die letzten 14 Tage dieses Krieges an der Ostfront können in ihrer Grausamkeit kaum mit Worten beschrieben werden. Am 30. April 1945, dem Tage des Selbstmordes von Hitler, kam ich nach Schwerin in der Absicht, dort vielleicht noch ein Flugzeug zu ergattern, zumal ich diesen Flughafen vorher öfter angeflogen hatte. Als ich auf dem Marktplatz von Schwerin eintraf, erhängte man dort gerade unter dem Geschrei des Pöbels eine Zeitungsfrau, die sich über den Tod des offenbar immer noch geliebten Führers freute. Außerdem lag der Flugplatz bereits unter Beschuß. Ich versuchte dann nach Durchschwimmen der Elbe unter MG-Beschuß bei Lauenburg wieder nach Süden zu gelangen, wozu ich mir einen verlassen am Wegrand liegenden Renault-Beutewagen flottmachte, mit dem ich in einen amerikanischen Fahrzeugkonvoi gelangte, in dem offensichtlich niemand bemerkte, daß ich gar nicht dazugehörte, denn die Amis fuhren auch Beutewagen. Erst als die Kolonne nach Stunden in einem Schloßhof anhielt, fiel die Sache auf. Ich war nun Gefangener der US-Armee, was ich – wenn schon, denn schon – angestrebt hatte. Ich wurde unter Bewachung im Pferdestall des Schlosses eingesperrt. Trotzdem gelang es mir, durch ein kleines Fenster zu entkommen. Zehn Tage im Hause Jünger Nach tagelangen Nachtmärschen gelangte ich um den 10. Mai 1945 in die Gegend von Hannover. In einem kleinen Ort – wie sich später herausstellte war es Kirchhorst – kam mir eine englische Patrouille entgegen, was mich veranlaßte, über die nächste Mauer und ins nächste Haus zu springen und mich auf dem Dachboden zu verstecken. Ich hatte vorher noch bemerkt, daß an der Gartentür ein Schild hing mit der Aufschrift „Off limits“. Offensichtlich durften die Engländer hier nicht hinein. Nach Stunden suchte mich die Frau des Hauses auf dem Dachboden – es war ja bei Todesstrafe verboten, deutsche Soldaten zu verstecken – und brachte mir zu essen und zu trinken. Gegen abend kam dann der Herr des Hauses. Dabei stellte sich heraus, daß ich in das Haus von Ernst Jünger geraten war. Ich wurde insgesamt zehn Tage im Hause Jünger hochgepäppelt. Ernst Jünger holte mich jeweils nach dem Abendessen in sein Arbeitszimmer und wir redeten über Gott und die Welt; häufig ging es um die Frage, was denn jetzt aus Deutschland werden sollte. Im einzelnen kann ich mich an die Gesprächsthemen allerdings nicht mehr erinnern. Im übrigen konnte Jünger lange wortlos in Gedanken versunken dasitzen; zeitweise wirkte er wie ein gebrochener Mann. Schließlich erzählte er mir den Grund, warum er tagsüber häufig nicht da war. Er wurde jeweils von einer englischen Jeepbesatzung abgeholt und in das nächstliegende Konzentrationslager Bergen verbracht, um dort mit den verbrecherischen Folgen des NS-Regimes konfrontiert zu werden. Jünger weinte in der Tat, während er mir davon erzählte, und er machte einen sehr erschütterten Eindruck. Ich mußte annehmen, daß er von der Existenz dieser Lager keine Ahnung hatte, kann dies aber nicht beweisen. Jedenfalls bezeichnete er Hitler als Schwerverbrecher. Ob er „stundenlang“ weinte, darauf möchte ich mich nicht festlegen, weil ich nicht auf die Uhr schaute. Dazu kam nach wenigen Tagen, daß er eine Mitteilung über seinen Sohn Ernst erhielt, der bei den letzten Kämpfen in Italien gefallen war. Bis jetzt war ich der Meinung, daß es sich dabei um die Todesnachricht handelte, vielleicht war es aber auch eine andere Mitteilung, die seinen Sohn betraf (siehe Kasten auf dieser Seite). Jedenfalls weiß ich sicher, daß während meines Aufenthalts in Kirchhorst bei Ernst Jünger eine Nachricht über seinen Sohn einging, die ihn zutiefst erschütterte. Verständlich, daß er unter diesen Umständen zu weinen begann. Natürlich hatte ich Jünger davon berichtet, daß ich eigentlich auf Grund seines Buches Kriegsfreiwilliger geworden war, sehr tapfer sein wollte wie er und anstelle des „Pour le Mérite“ das Ritterkreuz angestrebt hatte. Er war einigermaßen betroffen über die Wirkung seiner schriftstellerischen Arbeit. Auf der anderen Seite imponierte ihm mein bisheriger Lebenslauf. Nach etwa zehn Tagen verließ ich in einer dunklen Gewitternacht durch einen Hinterausgang das Haus Jünger, nicht ohne noch einen notdürftig gebundenen und mit Widmung versehenen Band seines Buches „Auf den Marmorklippen“ erhalten zu haben. Schließlich gelangte ich am 20. Mai 1945 bei Winsen an der Aller nochmals in amerikanische Gefangenschaft und wurde, als Einzelgefangener über mehrere hundert Kilometer auf der Motorhaube eines Jeeps sitzend, in ein riesiges Gefangenenlager bei Naumburg verfrachtet. Dort dienten die „Marmorklippen“ sowohl mir wie auch meinen gefangenen Kameraden nach Ausbruch einer Ruhrepidemie dazu, deren Folgen einigermaßen erträglich zu machen, indem jede Seite in zwei Teile geteilt wurde, um möglichst lange diesem Zweck zu dienen. Jünger hatte nur noch vage Erinnerungen Nach dem Krieg habe ich Ernst Jünger noch gelegentlich – meist zu seinem Geburtstag – aufgesucht und ihm jeweils Wein aus meiner Heimat mitgebracht. Das erste Mal traf ich ihn zusammen mit Ulrich Beer anläßlich eines gemeinsamen Essens in Saulgau. (Der Erinnerung von Beer nach muß das im Jahr 1969 gewesen sein, Anm. TT.) Selbstverständlich mußte ich immer die Käfersammlung begutachten. Was mich jeweils in Erstaunen versetzte, war die Tatsache, daß Jünger sich an diese ganze Geschichte nur vage erinnern konnte. Es wirkte so, als ob er sie verdrängte, weil ich ihn in seinen schwächsten Stunden erlebt hatte.Foto: Ursula Litzmann, Düren.

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