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Fratzen und Splitter, die nichts mehr bedeuten

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Im Oktober stand Rußland auf der Frankfurter Buchmesse als Themenschwerpunkt im Zentrum des Interesses. Vom Land Tolstois und Dostojewskis war zu hören, daß sich auch dort „eine neue Literaturszene etabliert“ hat: „Unbelastet von der alten Ideologie entwickeln Schriftsteller in ihren Clubs, Internetcafés, Lounges neue radikale Strategien mit ausgeprägtem Hang zur Selbstinszenierung. Vitalität, Lust an ungewöhnlichen Auftritten, vielfältigste Privatinitiativen zeichnen die junge literarische Szene aus.“ (Ost-West-Medien-Büro) Der postmoderne Kulturbetrieb scheint sich damit auch im Osten durchzusetzen. Währenddessen sind die Deutsch-Russischen Kulturbegegnungen 2003/04 in Berlin mit der Ausstellung „Berlin-Moskau / Moskau-Berlin 1950-2000 – von heute aus“ in ihre heiße Phase durchgestartet. Auf den zwei Etagen im Gropius-Bau kann man bis Anfang 2004 über 5.000 Quadratmeter hin eine unverdauliche „Superdocumenta“ östlicher und westlicher Kunst aus 50 Jahren goutieren, die 500 „Werke“ von 180 bildenden Künstlern zeigt und im Frühjahr grundlegend umgestaltet wird, bevor sie in der Moskauer Tretjakow-Galerie ab März ihre zweite Halbzeit antritt. Flankiert wird die Berliner Schau von diversen Veranstaltungsreihen mit russischen Filmen, Literaturabenden und Diskussionszirkeln. Anders als 1995 scheint es jedoch diesmal mit der binationalen Zusammenarbeit nicht geklappt zu haben, was den Ausstellern eine „erweiterte kuratorielle Dramaturgie“ abnötigte. Derlei Stilblüten durchziehen die Pressepapiere, die ausdrücklich nur von der deutschen Seite formuliert wurden. Hier distanziert man sich von der Vorgängerschau „Berlin-Moskau 1900-1950“ des Jahres 1995, die seinerzeit 600.000 Besucher anlockte. Das Datum bleibt im Bewußtsein der Berliner zu Recht aufbewahrt, rekonstruierten damals die Aussteller doch ein halbes Jahrhundert deutsch-russischer Beziehungen als integrierte Kulturgeschichte, in welcher jedes einzelne Kapitel und jeder Aspekt fesselten und interessierten: eine konstruktive Leistung, die im phänomenalen Katalog gottlob erhalten bleibt. 1995 fielen zwei Aspekte bedeutsam auf, ein methodisch-didaktischer, der andere inhaltsbezogen: Der interdisziplinäre Ansatz der Kuratoren verwob sämtliche Künste, einschließlich Theater, Architektur und Film, zu einem dichten Epochenpanorama. Zum anderen konnte der systematische Anspruch, von den Dokumenten intellektueller Energie und künstlerischer Kreativität aus die Zeitschicksale und -brüche vom späten 19. Jahrhundert bis in die Aufbaujahre nach 1945 hinein zu erschließen, verdeutlichen, wie sehr Intellektuelle mit ihren Projekten den Aufbruchswillen des Jahrhunderts aktiv befördert, es andererseits erlitten und ihm als Spiegel gedient haben. Allen Autonomieansprüchen zum Trotz zeigen die kulturellen Äußerungen dieser Jahrzehnte sich aufs Engste mit dem Zeitgeschehen verbunden, ob sie nun Urbanisierung in Malerei und Literatur reflektieren, Agitprop und Proletkult als ästhetische Strategien im politischen Zwist der 1920er Jahre empfehlen oder der totalitären Periode ihren Tribut zollen, wie im Filmwerk der Eisenstein und Riefenstahl. Selbst wenn das „Kunstwollen“ sich scheinbar ganz zurückzog von der Gegenwart, wie es uns der formale Aplomb von Kubisten, Suprematisten oder Abstrakten suggeriert, drangen deren Werke nicht weniger ins Herz ihrer Zeit vor. Gerade die sich einem vordergründigen Realismus entziehende Malerei sah in deren tiefenstruktureller Erkundung ihre Herausforderung. Am spektakulären Innovationswillen der modernen Klassiker verblüfft überdies deren Genie-Pathos und Werk-Kult, welche – verblüffend traditionalistisch – bis auf die Renaissance, ja selbst ins Religiöse zurückweisen, so bei Malewitsch die Travestie der Ikone zum schwarzen Quadrat. Immer geistgläubig, oft voluntaristisch verkünden die Künstler den neuen Menschen in einer neuen Welt. Was diese Periode vom Heute trennt, erfährt man jetzt nicht zuletzt durch die aktuelle Ausstellung und deren (deutsche) Kuratoren. Entgegen russischer Meinung wollte man keine Fortführung des Erfolgsprojekts von 1995, sondern etwas völlig anderes. Das allerdings ist gelungen. Der interdisziplinäre Ansatz ist gestrichen, die Präsentation der bildenden Künste – im Medium des entgrenzten Kunstbegriffs – indes ganz ausgeufert. Sodann verweigerte man sich dem Konzept, Kunst als „Indikator des Zeitgeists“ zu fassen und museumsdidaktisch Epochenquerschnitte zu bieten, sei es nun im „Flair eines Gesamtkunstwerkes“ oder in Form einer „kulturhistorischen Reportage“. Diese Dekontextualisierung der Objekte favorisiert notwendig den „autonomen Kunstbegriff“. Die objektive Entkoppelung von Gesellschaft und Kunst und deren Ausdifferenzierung zu spezialistischen Privatsnobismen wird ausstellungskonzeptionell also noch extrapoliert und postmodern radikalisiert. Damit aber geriet man in Konflikt mit den russischen Kollegen, die „ein ähnlich gestaltetes Ereignis bieten“ wollten wie 1995, „nämlich eine umfassende Schau von Werken unterschiedlicher Kunstsparten und einen Kommentar zu den historischen Ereignissen, die sich vor den Augen der jetzt lebenden Generationen abgespielt haben. Wir wollten die Geschichte in ausdrucksstarken künstlerischen Formen präsentieren und dabei möglichst vielfältiges Material einsetzen.“ So die Worte des russischen Kurators und stellvertretenden Ministers für Kultur der Russischen Föderation, Pawel Choroschilow. Er spricht höflich von „zwei Varianten“ der Ausstellung, dann freilich deutlicher davon, daß sein Team in den Verhandlungen mit der deutschen Seite erfahren mußte, wie sehr Kalter Krieg und Mauer in den Köpfen weiterleben, im dogmatischen „Begriff einer einzigen Norm“, so etwa ästhetisch. Da man jedoch die Exponate irgendwie in die Räume schmeißen mußte und – was bei Favorisierung des Werkprinzips naheliegend gewesen wäre – nicht stilgeschichtlich nach Schulen, Formen, Gruppen vorgehen wollte, galt es ein anderes Strukturprinzip zu finden. So wurden nun den Räumen Stichwörter zugewiesen, die analytische Themenfelder zu entwerfen scheinen. Sie klingen ganz plausibel: „Zeitscharnier“, „Kommunikative Systeme“, „Pandämonium Krieg“, „Rhetorik des Erhabenen“, „Massenkulturelle Muster“, „Körperbilder“ oder „Erlöserfiguren“, bleiben indes luftig-lockere Begriffe, die nicht viel hergeben, weshalb man uns sogleich versichert, man habe sie „essayistisch“ aufzufassen. Dem Betrachter wird alles, aber auch alles zugemutet Und so bleibt es denn auch bei einem Konglomerat aus 50 Jahren künstlerischer Produktion: ein ästhetischer Schutt, dem weder Zusammenhang noch Sinn abzugewinnen ist, ein monströses Kunstinferno ohne Cicerone. Es gibt alle Themen, alle Formen und Techniken, alle Materialen und Medien. Von in grotesker Piloty-Manier gepinselten stalinistischen Historienschinken bis hin zum Blechknäuel eines „Schildkrötenseufzerbaums“ (R. Horn 1994) wird dem Betrachter alles zugemutet: Installationen, Environments, Videospielereien, auch 1972 von Joseph Beuys zusammengefegter Straßenmüll. Wer sich diese ästhetische Kakophonie ernsthaft zumutet, wird spätestens in der Belle Étage von Übelkeit, totaler Erschöpfung, einer Art multikultureller Gehirnlähmung eingeholt, das natürliche Resultat des „postmodernen Psychoterrors“ (J. Hermand): eines bloßen Haufens formaler Fratzen und semantischer Splitter, die nichts mehr bedeuten. Insofern ist der Gropius-Bau derzeit sprechender Symbolort für die totale Implosion des Lebens in der Postmoderne. Historisch war wohl der Manierismus die erste Stilbewegung, die Kunst verrätselte, intellektualisierte, zitathaft und hermetisch machte. Doch war dies eine erlesene Veranstaltung zwischen Künstlern und Kennern, das metaphysische Thema blieb zumal virulent; im Manierismus artikulierte sich ein zeitspezifisches Krisengefühl. Dagegen anerkennt die „fröhliche Anarchie“ der Postmoderne nur mehr das Prinzip der Subjektivität, die sich selbst zum Zentrum macht. Wird solcher Autismus von Kunsthistorikern noch unterstützt und auf Hermeneutik verzichtet, die Objekte also nicht mehr in Beziehung gesetzt, dringt ein besinnungsloser Reigen vor, der sich selbst verschlingt und auslöscht. Um solche Selbstauslöschung handelt es sich hier. Folgerichtig tut sich im Lichthof des Gropius-Baus ein ästhetisches Nirwana auf. Gerhard Merz hat dorthin eine abstrakte Rauminstallation gesetzt, die sich jeder Figürlichkeit wie Farblichkeit gleichermaßen verweigert und Generaldirektor Peter-Klaus Schuster zu einem Hymnus im Katalog inspirierte. „Der Sieg der Sonne“, eine bildlose „Lichtschleuse“, antwortet der klassischen Avantgarde, indem sie sich rein negativ bezieht auf die Bühnenausstattung von Malewitsch „Sieg über die Sonne“ (1913). Merz‘ völlig „entleerter Kunstraum“, dies „Sanktuarium eines überzeugten Ikonoklasten“ (Schuster), diese entschlossene „Abkehr von der Kunst“ selber setzt, wie man leicht erahnt, die säkularen Entgleisungen in eins mit dem künstlerischen Veränderungselan. Dessen utopischer Impuls wird mit dem emphatischen Deutungsanspruch von Kunst überhaupt, ihrem Impetus, Organon der menschlichen Existenzerhellung zu sein, zeitgeistschnittig als kryptototalitär denunziert. Merz ziele nicht bloß auf ein „Monument des Scheiterns“, sondern bezwecke „eine Abkehr von den Tröstungen, Hoffnungen und Bildungsansprüchen jeglicher Kunst im Museum“. Von allen „Bildern, Göttern und Mythen“, mithin „unnützen Täuschungen gereinigt“, wird uns hier die Leere als „Metapher der Wahrheit“, als Symbol der Symbolverweigerung präsentiert. Das Chaos existiert, damit der Mensch es bändige Dieser weltanschaulich-ästhetische Atheismus macht die radikale Negativität der Spätmoderne als Zerstörungsimpuls gegen jegliche Sinnbildung offenkundig. Die „Dekonstruktion“ der „korrupten“ Tradition im Medium entfesselter Subjektivität erweist eben dies Subjektive als das Negative, als das es philosophisch seit je galt, die bornierte Vereinzelung, die sich gegen den Geist des Ganzen absperrt. Dem entsprechen die ästhetischen Prinzipien: die Aufhebung der Werkintegrität, Ersetzung zeitloser Idealität durch ephemere „flatness“ und Gestaltform durch „Fraktalisierung“, das Kaleidoskopartige und Diskontinuierliche treten an Stelle ernsthafter Vermittlung und wirklicher Synthese. Das Komplement zu Merz finden wir in dem ästhetischen Splitterhaufen genannt „Ausstellung“, dieser trostlosen Endlichkeit und dunklen Verwirrung künstlerischer Stellungnahmen, in deren Plunder ein Rezensent zwar die postmoderne Beliebigkeit angekommen sah, dem er jedoch auch „Anregendes“ abzugewinnen vermochte. Gewiß, alles ist irgendwie „bereichernd“ und „anregend“. Aber von einer fünf Millionen Euro teuren Ausstellung darf man auch triftige Aussagen erwarten. Deren Ausbleiben wird von Schuster eitel gerechtfertigt als „letztliches Nicht-Wissen-Können der Wahrheit durch den Menschen“. Wie verzweifelt die Situation des Menschen ist, wußten wir bereits; doch existiert das Chaos, damit er es bändige, ist er doch allein Sinnschöpfer in die Welt. Es bleiben passable Einzelwerke, die sich als solche schätzen lassen. Der Betrachter vermag geistige Strömungen zu entdecken wie die der „Moskauer Metaphysiker“ der 1970er Jahre, deren Widerstand gegen den „Alltagswahnsinn“, die „verderbliche Abtrennung der künstlerischen Aufgaben von überpersönlichen Vorgaben“ eine Kritik des postmodernen Nonsens vorwegnahm. „Das eigengesetzliche Spiel mit den Zeichen der Kultur war für die Metaphysiker inakzeptabel. Es wurde als Konformismus, als wesenloser, zynischer und höhnischer Relativismus aufgefaßt. Die echte Moderne schloß weder ewige Werte aus noch die platonische Welt überzeitlicher Ideen, noch die Erfahrung der alten Meister“ (J. Barabanow). Solch ein Künstler „wickelt den Ariadnefaden der archaischen Erinnerung ab“ und hebt die Zeiten auf in seinem „Bild“, einer „Ontologie des Universums“, der „Offenbarung seiner Hierarchien, Energien, Sinngehalte und Prophezeihungen“.

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