Ein deutscher Historiker, der uns als „des Königs Biograph“ präsentiert wird – also der einzige, der sich den Ehrentitel des „großen“ Königs verdient hat? Falsch. Es geht nicht um den alten Fritz, folglich auch nicht um einen der vielen borussischen Geschichtsschreiber, die dem Nachruhm des Hauses Hohenzollern verpflichtet waren. Der junge Jenaer Doktorand Matthias Steinbach hat seine wissenschaftliche Energie vielmehr auf den Lebensweg eines Mannes konzentriert, der schon dadurch aus dem Kreis seiner Zunftkollegen herausfiel, daß er sich intensiv mit der Geschichte des 1871 niedergeworfenen „Erbfeindes“ beschäftigte. Die Rede ist von Alexander Cartellieri, dem „Franzosen an der Saale“, dessen familiäre Wurzeln eigentlich in Oberitalien lagen. Cartellieri, seit 1902 Professor für mittelalterliche Geschichte in Jena, war von klassischen „Machthistorikern“ wie Heinrich von Treitschke und Dietrich Schäfer geprägt worden, durchbrach aber mit seinem Lebenswerk, der monumentalen Biographie des französischen Königs Philipp II. August, die Fixierung seiner deutschen Kollegen auf „Reich und Kaisertum“ genauso wie den Chauvinismus der Historiographen jenseits des Rheins, die Philipp zum „Denkmal des französischen Nationalismus“ aufgebaut hatten. Das Moderne von Cartellieris Geschichtsdenken, das Steinbach vielleicht etwas knapp behandelt, habe daher im „europäischen Ansatz“ gelegen, „der die im 11. und 12. Jahrhundert auch jenseits Deutschlands wirkenden Kräfte“ thematisierte. Der auch nach 1918, trotz des Diktats von Versailles, bewahrte, Ranke verpflichtete Glaube an die „germanisch-romanische Kultureinheit“ war nicht die einzige Abweichung, die Cartellieri als einen eher „untypischen“ Exponenten jener Historikergeneration erscheinen läßt, die man heute mehrheitlich zunächst als Agitatoren für die Kolonial- und Flottenpolitik und dann „14/18“ nur als Propagandisten des alldeutschen „Siegfriedens“ in Erinnerung behalten will. Obwohl sich auch Cartellieri an der Kriegspublizistik beteiligte, während der Weimarer Republik viel schrieb, was bestenfalls von „Haßliebe“ zu Frankreich zeugt, an der Kulturkritik Nietzsches und Langbehns partizipierte, Verständnis für Gobineaus Rassenlehre zeigte – für Steinbach bleibt er unzeitgemäß, auch nach 1933 und wieder, unter DDR-Verhältnissen, nach 1945. Cartellieris vielfach unangepaßte, schon in der Weimarer Republik leicht altmodisch wirkende Gelehrtenexistenz kann aber mit einer Fülle von „Paradoxien und Ambivalenzen“ aufwarten, die gerade Steinbach, einen „gelernten“, vom Umbruch 1989/90 sichtlich irritierten DDR-Bürger, zu einer ungewöhnlich sensiblen Rekonstruktion einer bildungsbürgerlichen Vita herausfordert. Zwar tauchen noch einige Versatzstücke aus der SED-Ideologie auf, wenn Steinbach allzu verschwenderisch mit der nichtssagenden Vokabel „Faschismus“ umgeht. Doch hindert ihn das nicht, in vorbildlicher Form wissenschaftsgeschichtliche Mikroskopie zu betreiben, bis in den Alltag des Historischen Seminars hineinzuleuchten, die Eigenheiten der liberalen Gelehrtenkultur Jenas zu vergegenwärtigen, oder, besonders liebevoll, dem Schicksal von Cartellieris „Produktionsmitteln“, den Büchern und Zeitschriften seiner riesigen Privatbibliothek, nachzugehen. Den mikrohistorischen Zugriff, der Steinbachs Biographie zu einem Lektüreerlebnis macht, vermißt man bei einem Sammelband, der sich anläßlich des 125. Gründungsjubiläums mit der Geschichte des Historischen Seminars an der Universität Halle beschäftigt. Das im mitteldeutschen Industriegebiet gelegene Halle, oft als „Workuta“ des preußischen Professorenstandes bespöttelt, hat keinen namhaften Historiker lange binden können – ausgenommen Eduard Meyer (1855 – 1930), den Spezialisten für die Weltreichsbildungen des Altertums, der von 1889 bis 1902 dort blieb und dem Burkhard Meißner hier ein kurzes Porträt widmet. Vielleicht aus Furcht, nicht genügend prominente Namen mit dem Hallenser Seminar verknüpfen zu können, entschieden sich die Veranstalter des Kolloquiums dafür, „übergreifende“ Aspekte der Entwicklung der deutschen Geschichtswissenschaft zwischen Reichsgründung und DDR-Monokultur zu berücksichtigen. So steht dann auf den ersten hundert Seiten nicht viel, was mit Halle zu tun hat, abgesehen von Ernst Schulins plastischen Erinnerungen an die Persönlichkeit der Hallenser Ordinarien Werner Frauendienst und Siegfried A. Kaehler. Im zweiten, den Lokalmatadoren gewidmeten Teil, geht es leider arg kursorisch zu. Dabei unterläuft Andreas Ranft sogar der peinliche Flüchtigkeitsfehler, von Ernst Dümmlers Ruf an die Berliner „Humboldt-Universität“ im Jahre 1872 zu sprechen, die so bekanntlich erst nach 1945 heißt. Gerade weil Halle um 1900 nur Historiker der zweiten Garnitur aufzuweisen hatte, hätte sich dieser Sammelband für Studien angeboten, die in der mikrohistorischen Manier Steinbachs verfahren und vergessenen Fachvertretern neues Leben einhauchen. Bei den durchschnittlich zehn Seiten, die den Beiträgern zur Verfügung standen, war das natürlich nicht zu leisten. Matthias Steinbach: Des Königs Biograph. Alexander Cartellieri (1867-1955). Historiker zwischen Frankreich und Deutschland. Peter Lang Verlag, Frankfurt /Main 2001, 340 Seiten, Abbildungen, 45,50 Euro Werner Freitag (Hrsg.): Halle und die deutsche Geschichtswissenschaft um 1900. Mitteldeutscher Verlag, Halle 2002, 208 Seiten, 23 Euro