Seine letzten Konzerte endeten fast immer mit demselben Ritual. Der Dirigent Herbert Kegel nahm die Partitur des eben dirigierten chorsinfonischen Großwerks vom Pult und hielt sie seinen Hörern entgegen, ihren Beifall auf den Komponisten lenkend, dem er weit mehr zustünde als jenem, der nur zwischen Komposition und Hörern vermittelt habe. Denn nicht als Pultstar, sondern als Mittler hat sich der 1920 in Dresden Geborene begriffen. Von 1949 bis 1978 leitete er Chor und Sinfonieorchester des Leipziger Rundfunks, von 1977 bis 1985 die Dresdner Philharmonie. Da war er bereits eine Instanz im Musikleben der DDR geworden: einer der wenigen deutschen Dirigenten mit Rückgrat, bei dem künstlerische und moralische Integrität zusammengingen. Er hat Pendereckis „Threnos. Den Opfern von Hiroshima“ 1967 in einem Konzert der Berliner Komischen Oper aufgeführt – gegen den Willen der Kulturbürokraten. Er hat in Leipzig Henzes „Floß der Medusa“ aufgeführt – gegen den Willen des gleichgeschalteten Komponistenverbandes, aus dem er demonstrativ austrat. „Threnos“, 1983 mit den Streichern der Dresdner Philharmoniker eingespielt, ist in einer Sammelbox enthalten, die auf 15 CDs legendäre Aufnahmen Herbert Kegels aus dem Archiv des VEB Deutsche Schallplatten wieder zugänglich macht (edel classics 0002332 CCC): legendär allein schon deshalb, weil in der DDR wesentliche Werke des 20. und einige des 19. Jahrhunderts in keinen anderen als in den Interpretationen Kegels erhältlich waren, späteres Hören dieser oder auch der Einspielungen anderer Dirigenten die frühen prägenden Eindrücke wohl zu überlagern vermochte, ohne sie jedoch gänzlich verdrängen zu können – und das bis heute. Und so muß sich noch jeder Bariton an dem, allerdings bisweilen überaus frei gestalteten, Moses des Werner Haseleu messen lassen, jeder jugendliche Heldentenor an dem gleißend hellen, kräftig, aber nicht dick aufgetragenen Aron des Reiner Goldberg von 1978. Doch auch Kegels eigene Aufnahmen der selben Werke zu verschiedenen Zeiten machen einander durchaus Konkurrenz, so die hier präsentierten drei Stücke aus Alban Bergs „Wozzeck“ mit Hanne-Lore Kuhse von 1966, der Konzertmitschnitt der Oper mit Gisela Schröter von 1973 oder die Aufnahme von Brittens „War Requiem“ aus den sechziger Jahren, der von1990. Es war die letzte Aufnahme des Dirigenten, der am 20. November 1990 den Freitod wählte. Warum nun welche Aufnahme aus Kegels umfangreicher Diskographie ausgewählt wurde, etwa die wenig aufhebenswerte 1. anstatt der 4. Symphonie von Gustav Mahler, deren Sopransolo Celestina Casapietra übernommen hatte, fast zwei Jahrzehnte die Frau des Dirigenten, warum etwa Kegels historisch bedeutsame Einspielungen von Paul Dessaus „Die Verurteilung des Lukullus“ und „Deutsches Miserere“ hier fehlen, darüber wird dem Hörer, der gerne auch ein Leser wäre, keine Auskunft zuteil. Nicht einmal die hervorragenden originalen Einführungstexte von Eberhardt Klemm und Mathias Hansen sind der Sammelbox beigegeben, geschweige denn der Nekrolog Gerhard Müllers von 1992. Der Hörer hat also für sich selbst zu entscheiden, ob es Zufall ist, daß Friedrich Schenkers „Landschaften für Großes Orchester“ der 1. Symphonie von Schostakowitsch, Friedrich Goldmanns Erste der Ersten von Mahler oder Dessaus Orchestermusik Nr. 2 „Meer der Stürme“ der unvermeidlichen „Symphonie fantastique“ von Berlioz nachfolgen. Oder ob da nicht zufällig Traditionslinien freigelegt sind, denen nachzuhören sich durchaus lohnte. Über den Menschen Herbert Kegel aber ist hier nur so viel zu erfahren, wie die Klangdokumente von ihm preisgeben.