Kann überhaupt etwas Neues über Hitler und Stalin ans Licht treten, seit Alan Bullock seine große Doppelbiographie „Hitler und Stalin“ vor mehr als einem Jahrzehnt veröffentlichte? Man sollte es nicht glauben, doch geschieht es hin und wieder. 1996 veröffentlichte Brigitte Hamann ihre detailreiche Untersuchung „Hitlers Wien“ und belegte mit einer Fülle von Dokumenten, daß Hitlers Antisemitismus nicht, wie bisher angenommen, aus seiner Jugend in der Vielvölkermonarchie an der Donau gründete. In jenen Wiener Jahren, in denen er mitunter in einem Männerheim lebte, hatte der junge Mann ganz offensichtlich keinerlei Vorbehalte gegen Juden, mit denen er sogar oft persönlich befreundet war. Die Wendung zum Hitlerschen „Radikal-Faschismus“ (Ernst Nolte) kommt wohl erst zum Ausgang des Krieges – ob durch das Kriegserlebnis selber oder durch die Revolution von 1918 hervorgerufen, ist angesichts dieser Tatsache nebensächlich. Spätestens bei seinen ersten Reden 1919 ist Hitlers „granitene Weltanschauung“ dann bereits voll ausgebildet. Sind ähnliche Entdeckungen auch im Falle Stalins zu erwarten, wo jetzt ein Großteil der „Geheimarchive“ im Kreml zugänglich ist? Der russische Journalist und Laienhistoriker Lew Besymenski meint, daß er vergleichbare Entdeckungen gemacht habe und spricht „anstelle eines Vorworts“ euphemistisch davon, daß er „Stalins Archiv im Kreml“ entdeckt habe. Aber damit ist es nicht weit her, von einem Archiv kann keine Rede sein, eher von verstreuten Funden, die neues Licht auf das seit langem Bekannte werfen. Der Autor hat eine ganze Reihe von handschriftlichen Notizen Stalins entdeckt und verschollen geglaubte Dokumente vor allem aus den Jahren 1940 bis 1942 ans Licht gezogen. Er kommentierte sie, wenn auch intellektuell eher schlicht, aber ein neues Bild von Hitler und Stalin ist auf diese Weise nicht entstanden und niemand wird die Geschichte deshalb umschreiben müssen. Eigentlich sind nur zwei Fragen wirklich interessant: Wie kam Hitler zu der Überzeugung, daß „ein einziger Fußtritt in den weichen Unterleib des Sowjetsystems“ (so zu dem Chef des OKW Wilhelm Keitel nach dem Sieg über Frankreich) genügen würde, damit die ganze Sowjetunion zusammenfiele? War Hitler in seinen ideologischen Überzeugungen so gefangen, daß er tatsächlich glaubte, die Sowjetunion werde ein vergleichsweise leichter Gegner sein, weshalb er ja auch immer nur von einem „Feldzug“, nicht von einem „Krieg“ sprach? Das deutsche Ostheer bekam den illusionären Charakter dieser Sicherheit am eigenen Leib zu spüren. So war darauf verzichtet worden, den deutschen Truppen Winteruniformen mitzugeben, bereits Ende August 1941 würden Moskau, Leningrad und Kiew erobert und der Krieg bis auf Säuberungsmaßnahmen beendet sein. Auch der deutsche Generalstab war sich sicher, daß man nur etwa acht bis zehn Wochen brauchen würde, die Sowjetunion niederzuwerfen. Der Generalstabschef Franz Halder schrieb in diesem Sommer in sein Kriegstagebuch, daß „man wohl sagen könne, dieser Feldzug sei in zwölf Wochen entschieden worden.“ Udo von Alvensleben, ein Oberstleutnant im Heer (sein Sohn Busso von Alvensleben war jahrelang der engste Mitarbeiter von Bundespräsident Richard von Weizsäcker), erhielt bereits im Frühherbst 1941 den Auftrag, die Siegesparade auf dem Roten Platz vorzubereiten. Der Verlauf der ersten Monate des Rußlandkrieges mit der Folge seiner Kesselschlachten und den Millionen von Gefangenen schien die Siegeszuversicht zu bestätigen, die der Blitzkrieg gegen Frankreich und der klägliche Verlauf des finnisch-sowjetischen Krieges 1939/40 hervorgerufen hatte. Allerdings muß man gerechterweise sagen, daß man auch in England und Amerika von einem schnellen Sieg Deutschlands ausging; die beiderseitigen Armeeführungen rechneten, daß es drei bis fünf Monate brauchen werde, die Sowjetunion niederzuwerfen. In diesem Hochsommer 1941 scheint der Siegesrausch Hitlers ins Unermeßliche gegangen zu sein. Halder erhielt den Auftrag, auch die Besetzung des Iran, Indiens und Afghanistans vorzubereiten. Am Ende stand tatsächlich wohl die Vorstellung einer ganz konkret verstandenen „Weltherrschaft“. Nach der Entlassung 1966 aus seiner Haft in Spandau fand Albert Speer in seinem Archiv jene Entwürfe, die er 1938 im Auftrag Hitlers von der geplanten Kuppelhalle für Berlin angefertigt hatte. Dort thronte auf diesem „größten Gebäude der Welt“ nicht mehr, wie auf den ersten Entwürfen, der Reichsadler über dem Hakenkreuz , sondern über der Weltkugel – ein klarer Beleg des Weltmachtstrebens Hitlers schon vor dem Krieg. All das ist bekannt, durch Forschungen des letzten halben Jahrhunderts im einzelnen belegt. Was sollte da ein russischer Privathistoriker noch Neues zutage fördern? Auch auf der russischen Seite steht es mit umstürzenden Entdeckungen schlecht. Wieder liegt die eigentliche Frage darin, warum Stalin mit Hitler 1939 gemeinsame Sache in der Aufteilung Polens machte, und weshalb Stalin sich bis in die Tage des deutschen Angriffs hinein renitent zeigte, wenn ihn seine eigenen Generäle und Agenten vor einem unmittelbar bevorstehenden Angriff der Deutschen warnten. Die deutsche Offensive traf daher auf eine völlig unvorbereitete russische Front, was die stürmischen Anfangserfolge der ersten Wochen und Monate zu einem Teil möglich machte. War Stalin so naiv, daß er wirklich auf die Zusammenarbeit der beiden revolutionären kontinentalen Mächte setzte, und war seine Abneigung gegen die plutokratisch-kapitalistischen Staaten des Westens so groß, daß er den Teufel mit dem Beelzebub austreiben wollte? Auch da hat die Forschung der letzten Jahrzehnte die Dinge ins rechte Lot gerückt. Stalin rechnete sehr wohl mit einem deutschen Angriff, Hitlers „Mein Kampf“ scheint in der Sowjetunion aufmerksam gelesen worden zu sein, er verschätzte sich nur im Datum. Er meinte, noch zumindest ein Dreivierteljahr, wahrscheinlich anderthalb Jahre und möglicherweise sogar zweieinhalb Jahre Zeit zu haben, bis im Herbst 1942 die Deutschen auf den heiligen Boden Rußlands einfallen würden. Auch da sind alle Fakten längst geklärt, so daß dieser Band nichts wirklich Neues zutage fördert. Aber natürlich erschüttert es, wenn man sich vergegenwärtigt, wie die beiden Diktatoren, die das Schicksal Europas für einige Jahre in ihrer Hand hatten, sechzig Millionen Menschenleben opferten. Letzte wissenschaftliche Schätzungen sprechen allein von 20,6 Millionen sowjetischer und 7 Millionen deutscher Kriegstoter (Soldaten und Zivilisten), von den Toten anderer Nationen, die in das allgemeine Unglück gerissen wurden, nicht zu sprechen. Inzwischen hat sich das Schicksal Europas halbwegs beruhigt. Aber es war dann doch Deutschland, das die Zeche mit dem Verlust eines Viertels seines Territoriums zahlte: Ostpreußen, Westpreußen, Hinterpommern, Neumark und Schlesien wurden für alle Zeiten verspielt, denn nicht einmal die Rechtsnationalen träumen von einer Revanche, um das Verlorene wiederzugewinnen. Nun muß es aber mit neuen Hitler-Stalin-Büchern auch genug sein. Langsam möchte man wirklich nichts mehr von Hitler und Stalin hören. Es reicht. Lew Besymenski: Stalin und Hitler. Das Pokerspiel der Diktaturen. Aufbau Verlag, Berlin 2002, 488 Seiten, 41 Abbildungen, 25 Euro Dr. Wolf Jobst Siedler ist Verleger und Publizist. 1983 gründete er den Wolf Jobst Siedler Verlag, der inzwischen zur Bertelsmann-Gruppe gehört.