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Die Barbarei von Bagdad

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Bei ihrem Einzug in Bagdad haben die Amerikaner eine klare Entscheidung getroffen. Das Erdölministerium wurde unter strenge Bewachung gestellt, die Museen hingegen mit ihrem jahrtausendealten Kulturgut wurden Plünderern preisgegeben, trotz Hilferufen und Warnungen schon im Vorfeld. Was auch immer die Gründe und Motive dafür waren, man muß festhalten, daß die Führungsmacht der westlichen Demokratie eindeutige Prioritäten gesetzt hat: Was zählt, sind Bodenschätze und die Ökonomie, während das kulturelle Erbe – selbst wenn es sich dabei um die Kultur des Zweistromlandes, die Wiege der menschlichen Kultur, handelt – eine verzichtbare, vielleicht hinderliche, jedenfalls disponible Größe darstellt. Die Berichte aus dem Irak lassen kaum die Annahme zu, daß diese Kulturbarbarei aus Naivität oder fehlgegangenem gutem Willen passiert ist. Viel weist darauf hin, daß der randalierende Pöbel die Deckung und das Alibi eines minutiös geplanten Kunstraubs war. Die Plünderer haben handwerklichen Professionalismus und kunstgeschichtliches Expertenwissen bewiesen und zwischen wertvollen und weniger wertvollen Dingen unterschieden. Zu denken gibt auch, daß bereits im September 2002 der „American Council of Culture Policy“ gegründet worden ist, dem Anwälte, Wissenschaftler, Kunsthändler, Museumsfachleute angehören. Sein Ziel ist die Lockerung der strengen Ein- und Ausfuhrbestimmungen für irakisches Kulturgut. Gut möglich, daß bald Raubgut in amerikanischen Museen aufgestellt wird. Die Chance, daß weltweit die Museen sich darauf einigen könnten, keines dieser Exponate auf dem legalen Markt zu handeln, wird von Experten für unrealistisch gehalten, da die amerikanischen Museen viel stärker als die europäischen auf Sponsoren angewiesen sind, die selber oftmals Sammler sind. Um dies klarzustellen: Es geht nicht um die Amerikaner. Im internationalen Protestchor gegen den Bagdader Frevel gehören die Stimmen von US-Archäologen zu den lautesten, und selbst Kulturberater der Bush-Regierung sind unter Protest zurückgetreten. Inzwischen dämmert der US-Führung, daß sie einen dramatischen Fehler begangen bzw. zugelassen hat. Wer außerdem die Bilder von den feiernden Schiiten in Kerbala gesehen hat, ihre religiöse Inbrunst, dem ist klar, daß zwischen den amerikanischen Befriedungsplänen und dem Selbstverständnis der Iraker Welten klaffen. Diese Menschen werden die Zerstörung und Verschleppung ihrer Artefakte nicht vergessen und verzeihen. Sogar der Irak-Verwalter Jay Garner hat jetzt dazu aufgerufen, gestohlenes Kulturgut zurückzugeben. Welche tiefere Bedeutung aber liegt in dem amerikanischen Versagen, mag es nun auf naive Ignoranz oder kalte Berechnung zurückzuführen sein? Ein „Kampf der Kulturen“ hat hier gewiß nicht stattgefunden, denn „kulturvoll“ war die US-Haltung in keinem Fall. Vielleich ist es einfach an der Zeit, die begriffliche Trennung von „Kultur“ und „Zivilisation“ wieder in den aktiven Sprachgebrauch einzuführen! Die Attribute der „Zivilisation“ sind Demokratie, Stimmrecht, eine effiziente Wirtschaft, Rationalität, also ein Regelwerk sozialer und politischer Techniken, die die bürgerliche Gesellschaft – die jetzt eine Massengesellschaft ist – strukturieren, befrieden und versorgen. Ihre Personifizierung findet sie im „Homo Faber“, dem rationalitätsgläubigen Menschen, der ein technologisches Weltverständnis hat. Er betrachtet das Leben als Addition von Quantitäten und besitzt daher kein Verhältnis zur Zeit und zum Tod. Vergangenheit und Zukunft kann er sich nur als eine Verlängerung der Gegenwart an beiden Enden der Zeitachse vorstellen. Die USA sind die Speerspitze dieser Zivilisation. Die „Kultur“ verweigert sich der rationalistischen Normierung und Zeitverengung. Sie meint, daß das Leben reicher, vielfältiger und unberechenbar ist und das Irrationale, den Schicksalsbegriff, die religiöse Dimension, die anthropologischen Konstanten, die Mythen als „Gestalten des Seins“ (Walter F. Otto) und die Verwurzelung im Raum einschließt. Kultur heißt Trauer um die verlorene Ganzheit und Ehrfurcht vor den Artefakten, die auf sie verweisen. Im Kulturbegriff bleibt der Unterschied zwischen Preis und Wert lebendig. Man könnte einwenden, daß gerade der Krieg ein wichtiger Motor der Kultur und die US-Politik daher Ausdruck kultureller Vitalität ist. Dagegen muß man auf den Charakter dieses Feldzugs verweisen, der zwischen einer Kavallerie auf Kamelen und lasergesteuerten Bomben stattfand. Der Schriftsteller Georg Klein erwähnte in einem vielbeachteten Artikel den gefangenen US-Marine, der vor laufender Kamera auf die Frage, weshalb er nach Irak gekommen war, angstflackernd zur Antwort gab, seine Arbeit sei nur die Wartung technischen Geräts gewesen. Man weiß inzwischen, wie gotterbärmlich recht er damit hatte. Kultur und Zivilisation müssen keine Gegensätze sein, im Idealfall ergänzen sie sich komplementär. Um dies zu illustrieren, folgen wir George Steiners Lektüre von Heideggers „Frage der Technik“. Danach war die „Natur“ einst physis, eine natürliche Wirklichkeit, die zugleich einen Schöpfungsprozeß verkündete. Das Verständnis von techne war dem Vorrang ihrer natürlichen Formen verpflichtet. „Technik“ wurde als ein Modus des Wissens begriffen, das Objekte hervorbringt, deren Formen ein gebündeltes Erkennen enthielten, ein Wieder-Erkennen einer natürlichen Wirklichkeit und wahrhafter Zielen. „Nicht weniger als Kunst bedeutete techne, das, was bereits in physis liegt, in wahres Sein zu bringen, greifbar und leuchtend werden zu lassen.“ Entsprechend könnte man die Aufgabe der Zivilisation als zeitgemäßes „Entbergen“ der Kultur verstehen. Die globale Dominanz der USA heute bedeutet die grenzenlose Herrschaft des „Homo faber“. Der Raubbau an der Natur und die Konditionierung des Menschen zum Konsumenten bzw. zum Stimmbürger, der alle vier Jahre seine Stimme „abgibt“, sind zwei Seiten der Medaille. Der kirgisische Schriftsteller Tschingis Aitmatov erzählt in einem Roman die Legende von einem asiatischen Stamm, der seinen Gefangenen durch Folter das Gedächtnis raubt und zu willenlosen Sklaven macht. Einer tötet daraufhin die eigene Mutter, als die ihn aus der Gefangenschaft befreien will. In diesem Gleichnis ist die Barbarei von Bagdad bereits enthalten. Die fehlende Ehrfurcht vor den mesopotamischen Artefakten könnte weltweit die Neigung verstärken, sich Nikolaus Lenaus Satz, Amerika sei ein Land ohne Wein und Nachtigallen, zu eigen zu machen. Die Abwesenheit von Kultur macht die Zivilisation grundlos, wie umgekehrt die Abwesenheit von Zivilsation die Kultur in den Abgrund stürzen läßt. Diese zweite Lektion hat wiederum Deutschland schmerzhaft gelernt. Nicht ohne Schaudern liest man Felix Dahns Gedicht „Deutschland“ von 1859, in dem er das deutsche Schicksal als Nibelungen-Kampf verklärt: „Brach Etzels Haus in Glut zusammen / als er die Nibelungen zwang, / So soll Europa stehn in Flammen / bei der Germanen Untergang.“ So ähnlich ist es 1945 ja auch gekommen. Die aus Bagdad übermittelten Fernsehbilder drücken, wie eindimensional auch immer, den symbolischen Herrschaftsanspruch der USA aus. Der Sturz der Saddam-Statue wurde live übertragen, wobei häufig das Sternenbanner ins Bild geriet. Die Szenen sollten Assoziationen an die ’89er Revolutionen im Ostblock wecken und die Amerikaner als Vollstrecker globalen Freiheitswillens zeigen. Die verwüsteten Museen führen vor, daß die Iraker nach überwundener Diktatur noch über keine zivilisatorische Reife verfügen und einen Protektor benötigen. Zumindest unbewußt könnte mit dem Raub und der Zerstörung kultureller Symbole auch der Beginn einer Neukonditionierung der Bevölkerung beabsichtigt sein, wie sie – unter anderen Vorzeichen – während der Kulturrevolution in China und später in Kambodscha vollzogen wurde. Auch die DDR ließ Kirchen und Schlösser zerstören, um freie Bahn für den von keiner falschen Vergangenheit beschwerten Neuen Menschen zu schaffen. In das künstlich erzeugte, bewußtlose Vakuum kann dann eindringen, was Naive die „natürliche Faszination der US-Lebensweise“ nennen. Die Vereinnahmung der natürlichen und strategischen Ressourcen des Irak durch die USA ist im vollen Gange. Der Raub der Artefakte hätte noch eine ganz andere Qualität. Bis zu 7.000 Jahre alte Kulturgüter, ausgestellt in amerikanischen Museen, würden der Welt höhnisch vor Augen führen, wer denn nun Hüter und symbolischer Hoheitsträger der Weltkultur ist. Doch vielleicht kommt es auch ganz anders. Längst ist klar, daß die Kulturschande von Bagdad den USA weit mehr Schaden zugefügt hat als die Mißachtung des Uno-Sicherheitsrates. Selbst in Washington gibt es genug Leute, denen die Aussicht, daß ihr Land sein gesamtes moralisches Kapital verspielt, unheimlich ist. Und in Europa wird man künftig nicht nur vom „Kampf der Kulturen“, sondern auch vom Behauptungskampf und dem Entbergen der Kultur sprechen müssen.

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