Zu den wichtigsten Forderungen der Situationistischen Internationale, einer Pariser Intellektuellen- und Künstlerbewegung im Spannungsfeld zwischen Existentialismus und Revolutionseuphorie in den späten fünfziger und sechziger Jahren, zählte neben der Abschaffung aller Museen und Friedhöfe, dem Abschütteln des Erinnerungsballasts und der Entfernung aller Denkmäler die Ausrüstung aller Straßenlaternen mit einem eigenen Schalter zum Ein- und Ausschalten je nach Belieben der Passanten. Es ging den Situationisten um eine durch keine institutionelle Ordnung beschnittene und verfremdete Individualität. Von hier aus war es über die 68er-Bewegung nicht weit zum Trivialindividualismus der Postmoderne mit seiner Koexistenz der diversen Geschmäcker, Lebensweisen und Leidenschaften. Man darf die Situationisten also ruhigen Gewissens als die eigentlichen Erfinder und Entdecker der Postmoderne bezeichnen. Zwar ist dieser Begriff ein schillernder und oberflächlicher, denn die Postmoderne ist ja im Grunde nichts anderes als die gute alte Moderne, die leider nicht die Konsequenz aufbrachte, zu sterben, ehe sie in Krankheit und Elend vergreiste. Als System der Gefälligkeit ist die Postmoderne aber auch ein ewiger Workshop des ständigen Umgestaltens und der permanenten Veränderung. Jeder Einzelne möge der Herr seines Schicksals sein auf dem Weg ins Glück der individuellen Wunscherfüllung, lautet ihr Credo. Das funktioniert jedoch nur, wenn man die kollektive Psyche zum Wesen alles Gesellschaftlichen erklärt und den geschichtlichen Status einer Gemeinschaft auf pure Sozialpsychologie reduziert. Alles kann dann in Frage gestellt werden, außer den Fragenden. Alles soll möglich sein. Aber alles ist am Ende auch immer nichts. Seine wohl schärfste theoretische Ausprägung findet dieses Konzept in der Bewegung der „Glücklichen Arbeitslosen“ und deren hedonistischer Negation der Arbeit; seine kulturgeschichtlich originellste jedoch in Medienphänomenen wie „Big Brother“. Daß diese „Dauerspontaneität“ eines vagen, unentschiedenen Pluralismus über das ständige Konstatieren einer progressiven Dissoziation alles Sozialen nie hinauskommt, liegt an ihrem zutiefst apolitischen Begriff einer Gesellschaftskritik, die letztlich außer der Verteidigung einer privatisierten Individualdemokratie nichts zu bieten hat. Wenn alles sich auf das Hervorbringen von „Situationen“ reduziert – die smarties-bunte Spaßgesellschaft mit ihren postmodernistischen Ausdrucksformen der Pop- und Alltagskultur, die Lifestyle-Generation mit ihren bleichen Zeitgeist-Talenten, die in den seichten Gewässern libertärer Emanzipationskampfrituale plantschenden „neuen Bewegungen“ -, dann reicht es nicht einmal zu einem Konzept des aktiven Nihilismus. Die lächerliche Verfallsgestalt der Gute-Laune-Simulation und des sozialästhetischen Tabubruchs muß dann generös zur großen Zukunft umgelogen werden. Als Leibwächter dieser Ästhetisierung des postmodernistischen Elends bieten sich die Relativisten jeglicher politischer Couleur an. Weil sie selbst nicht in der Lage sind, ein Erkenntnisurteil zu vollziehen, lauschen sie begehrlich auf die diversen „Wahrheiten“ in der Geschichte und Gesellschaft. So paaren sich alsbald Meinungen mit Meinungen, aber die Früchte dieser widernatürlichen Meinungspaarungen sind allesamt Totgeburten. Die Relativisten, die sich selber nicht ernst nehmen wollen, interpretieren und deuten mit einem an Frechheit grenzenden pseudosouveränen Gestus und dem dazu passenden Talkshow-Geschnatter Geschichte, Politik und Kultur ohne Rücksicht auf Lebende und Tote. Diese Haltung ist eine prinzipiell parasitische und leichenfleddernde, die allein von der Substanz der vergangenen Zeiten lebt, um sie für ihre Zwecke zu verbrauchen und zu zerstören. Allerorten florieren heute sogenannte Akademien, wo in Diskussionen, Symposien, Podiumsgesprächen und Referaten Meinungen ausgetauscht werden. Hier operieren die Wahrheits- und Erkenntnisrelativisten mit ihren Thesen der Unmöglichkeit einer klaren Erkenntnis des Wirklichen und damit der Unmöglichkeit einer bestimmten Handlungsweise. Wer aber nicht weiß, was er will, müßte der Ehrlichkeit halber hinzufügen, daß er auch nicht weiß, was er behauptet, und daß man mit ihm in keinem gemeinsamen Bemühen um die Wahrheit stehen kann. Wer nur im endlosen Strom eines Meinens schwimmen will, das sich bewußt der Wahrheit entzieht, schließt sich freiwillig von dieser aus. Der Geist des Relativismus will zwar mit der abstrakten Idee leben, aber er verweigert deren Verwirklichung. Wenn das Wort aber nicht Fleisch werden soll, zerstört es auch die zwischenmenschlichen Beziehungen bis an die Wurzel, weil alles, was aus und in der Wahrheit lebt, damit zerstört wird. Dieser Vernichtungskampf gegen die Wahrheit und damit gegen das Leben tobt heute überall: im Hang zur Beliebigkeit, der die Hip-Hop-Politik unserer politischen Klasse kennzeichnet, in den als Programm ausgegebenen intellektuellen Defizienzen der vermaßten Lebensästheten und ihrer Alltagsexzentrik, im Politästhetizismus sogenannter „souveräner“ Individuen, die permanent Sein mit Design verwechseln, und überall dort, wo das monologisierende Geschwätz an die Stelle der Erkenntnisbemühungen tritt und der Andere moralisch ermordet wird. Man lebt ausschließlich vom Erbe der Vergangenheit und aus der Substanz des Früheren, verachtet diese jedoch, gibt vor, sie nicht zu kennen – und kennt deren wesentliche Wirklichkeit tatsächlich nicht. Der amerikanische Historiker Christopher Lasch erkannte bereits in den siebziger Jahren, daß die „neuen sozialen Bewegungen“ trotz ihres vordergründigen Moralisierens das „Zeitalter des Narzißmus“ eingeläutet hatten. Wenige Jahre später war die infantil vor sich hin schäkernde postmoderne Unbeschwertheit bereits an der Tagesordnung, und gleichzeitig feierte der Relativismus der Situationisten seine schmerzlose Wiedergeburt. Verwunderlich ist dabei nur, daß offenbar niemand, weder links noch rechts, diesen Zustand als offenkundiges Krisenphänomen einer Gesellschaft erkennt, deren kritische Kritiklosigkeit Theodor W. Adorno bereits in den „Minima Moralia“ zutreffend beschrieben hat: „Die Verteidigung des Naiven, wie sie von Irrationalisten und Intellektuellenfressern aller Art betrieben wird, ist unwürdig. Die Reflexion, welche die Partei der Naivität annimmt, richtet sich selbst: Schlauheit und Obskurantismus sind immer noch dasselbe. Sie dient allem Schlechten, von der Verstocktheit des privaten Nun-einmal-so-Seins bis zur Rechtfertigung des gesellschaftlichen Unrechts als Natur.“ Die bewußtlosen Träger dieser falschen Unmittelbarkeit sind jedoch längst im Zustand völliger Infantilität angelangt. Am symptomatischsten und exemplarischsten ist dies immer noch an der die „Vermüllung der bürgerlichen Subjektivität“ (Robert Kurz) bewirkenden Love Parade in Berlin zu erkennen. Daß sich diese Form herunterästhetisierter Politik in das Designer-Bewußtsein der politiko-kulturellen Galionsfiguren jeglicher Couleur einklinken konnte, zeugt indes von ihrem ungebrochenen Sendungsbewußtsein. Gott sei Dank wird in den Händen der postmodernistischen Relativisten sogar noch der individualanarchistische Sprengstoff eines Max Stirner („Mir geht nichts über mich!“) zur Cola light.
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