Am Anfang stand das Wort aus der Genesis: „Alle Menschen hatten die gleiche Sprache und gebrauchten die gleichen Worte.“ Doch dann faßten sie einen folgenschweren Entschluß: „Auf, bauen wir uns einen Turm mit einer Spitze bis zum Himmel und machen wir uns damit einen Namen, dann werden wir uns nicht über die ganze Erde zerstreuen!“ Das gefiel Gott allerdings überhaupt nicht. Er stieg hinab zu den Menschenkindern und sprach: „Seht nur, ein Volk sind sie und eine Sprache haben sie alle. Und das ist erst der Anfang ihres Tuns. Jetzt wird ihnen nichts mehr unerreichbar sein, was sie sich auch vornehmen. Auf, steigen wir hinab und verwirren wir dort ihre Sprache, so daß keiner mehr die Sprache des anderen versteht!“ So geschah es: „Der Herr zerstreute sie von dort aus über die ganze Erde und sie hörten auf, an der Stadt zu bauen.“ Dieses Stadium des ewig unvollendeten Turmbaus ist auch das Thema der meisten Darstellungen der Kunstgeschichte, die die Großausstellung „Der Turmbau zu Babel“ im Grazer Schloß Eggenberg zeigt. Sie führt in beeindruckender Weise die bedeutendsten Ausgestaltungen dieses Sujets seit dem Mittelalter vor. Mit einer, allerdings wichtigen, Ausnahme: Die Ikone aller Babel-Bilder, das Monumentalgemälde Pieter Breughels des Älteren aus dem Jahre 1563, durfte aus konservatorischen Gründen seinen angestammten Platz in Wien nicht verlassen. Ein nahezu gleichwertiges Bild, die einzige zeitgenössische Kopie seines Sohnes, Pieter des Jüngeren, aus Brüsseler Privatbesitz steht dem staunenden Publikum zur Verfügung. Der Turmbau zu Babel, von dem die Bibel berichtet, bedeutet also Sprachverwirrung, kulturelles Nichtverstehen, die Zerstreuung der Menschheit. Dabei ist die Interpretation des Turmbaus zu Babel bereits selbst ein Dokument dieses Mißverstehens. Denn „Babil“ nannten die Babylonier ihre eigene Stadt. Das bedeutete „das Tor Gottes“, eines Gottes, dem man durch den Turmbau nahe sein wollte, nicht, wie eine spätere Interpretation nahelegte, aus Größenwahn und Übermut. Es war allerdings ein durchaus produktives „Mißverständnis“, wie sich zeigen sollte. Die Bibel setzte ihre eigene Interpretation dagegen und stellte so der Vorstellung religiöser und kultureller Identität das Bild der Urängste von Zerstreuung und Verwirrung gegenüber. Babylon ist das Bild, in dem sich seit Jahrtausenden die archaischen Ängste imperialer Allmachtsphantasien, Hybris und Dekadenz spiegeln. Aber Bücher sind wie Spiegel, das wußte schon der alte Lichtenberg: Wenn ein Affe hineinschaut, dann kann auch kein Philosoph herausschauen. Bei dem Buch aller Bücher ist das nicht anders. So haben die postmodernen Apologeten dieser Sprach- und Kulturverwirrung aus dem Zeichen der Dekadenz und der Strafe Gottes eine Forderung fabriziert. „Heimat Babylon“ betitelte beispielsweise Daniel Cohn-Bendit 1992 sein Buch über das „Wagnis der multikulturellen Demokratie“, in der er den Widersprüchen und Problemen durch die universale Übernahme des westlich-amerikanischen Wertekanons zu entgehen suchte. Für den postmodernen Multikulturalismus ist der Turm naives Wunschbild. Pessimisten wie Samuel Huntington raten zum Ausgrenzen und Einigeln. Die westlichen Universalisten von Francis Fukuyama bis Jürgen Habermas oder Cohn-Bendit sehen zwar eine Gefahr, glauben sie aber durch die eigenen, für universal erklärten Regeln lösen zu können. So steht der Turm von Babel heute für die imperialen und universalen Träume, für einen Menschen, der von sich sagt, daß ihm nichts mehr unmöglich sein wird, für eine Welt des „anything goes“, der „unbegrenzten Möglichkeiten“. Doch auch die unterschwelligen Ängste gegenüber diesem kolossalen „Projekt der Moderne“ bleiben immer bestehen. Denn wer Türme von babylonischen Ausmaßen errichten will, benötigt mehr Arbeiter als das siebentorige Theben. Rasch wachsende Imperien nehmen stets die Menschenmassen von überallher in ihre Metropolis auf. Sie brauchen und verbrauchen sie wie riesige Maschinen und organisieren gigantische Bevölkerungsaustausche von Zentrum und Peripherie. In ihren letzten Schwäche- und Dekadenzphasen, so will es das kollektive Gedächtnis wissen, fallen all diese Massen wieder in ihre Kulturen auseinander, zerlegen das Imperium – oft genug blutig. Das Imperium zerbirst an seiner Gefräßigkeit, an seinen inneren Widersprüchen. Die schrecklichen Ereignisse des 11. September 2001 mit der Zerstörung der Türme des World Trade Center in New York hat man, ob zutreffenderweise oder nicht, seither mehrfach in Verbindung gebracht mit dem Symbol des Babelturmes. Eine frühe, hellsichtige Interpretation dazu lieferte, lange vor der Zerstörung der Brücke von Mostar und der Bibliothek von Sarajewo, der frühere Bürgermeister von Belgrad, Bogdan Bogdanovic („Die Stadt und der Tod“, 1993): Die einst unterworfenen Barbaren kehren sich gegen die Zentren des Reiches und zerstören die Kultur ihrer früheren Herren. Das Hauptziel ihres Hasses ist in der Geschichte immer wieder die gewachsene Hochkultur, verkörpert durch die Stadt, diese wiederum symbolisiert in der herausragenden Architektur, dem ewigen Haßobjekt des Turms von Babel. So gehört diese Geschichte des Turmbaus zu Babel zu den wichtigsten Zeugnissen des kulturellen Gedächtnisses nicht nur des Volkes Israel. Natürlich erklärt sich die Vielfalt der Sprachen heute nach ganz anderen Modellen. Die Grazer Ausstellung spannt den Bogen von dem neuesten Stand der Forschung über den Spracherwerb von Kindern bis hin zur Frage nach dem Verhältnis von nationaler und sprachlicher Identität an den verschiedensten Beispielen. Der dritte Ausstellungsteil zeigt archäologisches und völkerkundliches Anschauungsmaterial zur Geschichte der Schrift(en), einer der Ausdrucksformen sprachlicher und kultureller Vielfalt auf Erden. Freilich kommt der Frage von Schriftlichkeit und Nichtschriftlichkeit einer Sprache für die nationale Identität in Graz eine zu geringe Rolle zu. Aber hier stünde die Ausstellung wohl vor ähnlichen Darstellungsschwierigkeiten wie ein Hörfunkballett. Die Fragen der nationalen Identitäten spielen überdies naturgemäß eine geringere Rolle als die der Arbeit an der „Einen Welt“-Ideologie. So muß man es wohl interpretieren, wenn die menschliche Hybris der Baukünstler nach wie vor in den leuchtendsten Farben gemalt wird, wie etwa von Wolf Prix von „Coop Himmelb(l)au“: „Wer heute nicht bereit ist, am Turm zu Babel zu bauen, hat kein Recht, Architekt zu sein.“ Aber auch das wissen die Menschen seit Jahrtausenden: Hochmut kommt vor dem Fall. Turmbau zu Babel, Pieter Breughel d.J. (1564-1638): Das Imperium zerbirst an seiner Gefräßigkeit, an seinen inneren Widersprüchen Die Ausstellung „Der Turmbau zu Babel. Ursprung und Vielfalt von Sprache und Schrift“ im Schloß Eggenberg bei Graz dauert bis zum 5. Oktober 2003. Der vierbändige, reich bebilderte Katalog kostet 70 Euro.
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