Der Journalist Henning Sietz, der für FAZ und Die Zeit schreibt, präsentiert in seinem jüngsten Buch einen heute weitgehend unbekannten Fall politischer Kriminalgeschichte der frühen Bundesrepublik, bei dem der durch Ermittlungen offenbarte brisante Täterkreis – ehemalige jüdische Opfer der NS-Gewalt – vom Boulevard-Thema plötzlich in der Geheimhaltung verschwand. Mitten im Aufbau des zerstörten Landes und bereits erster Ansätze eines Wirtschaftswunders erschüttert am 27. März 1952 die Explosion einer Bombe im Keller des Münchener Polizeipräsidiums die noch junge Republik. Adressiert war diese an Bundeskanzler Konrad Adenauer. Der Sprengmeister Karl Reichert kommt beim Öffnen der Sendung ums Leben. Eine Sonderkommission der Polizei nimmt die Arbeit auf. Gesucht wird ein etwa 30jähriger Mann „mit südländischem Aussehen“. Am Münchener Hauptbahnhof hat er zwei Jungen gebeten, ein Paket zur Post zu bringen. Der Botenlohn: drei Mark – mehr als das Taschengeld. Die Buben sind begeistert, aber helle. Als der Fremde ihnen folgt, schöpfen sie Verdacht und liefern das Paket bei der Polizei ab. Der Anschlag auf Bundeskanzler Adenauer findet im In- und Ausland große Aufmerksamkeit. Die Medien berichten täglich. Aus der Bevölkerung gehen Hunderte von Hinweisen ein. Einige Tage später kommen zwei weitere Bomben per Post. Empfänger ist diesmal der Leiter der deutschen Kommission bei den Wiedergutmachungsverhandlungen in Den Haag, Franz Böhm. Eine „Organisation Jüdischer Partisanen“ bekennt sich zu den Anschlägen. Die Hinweise verdichten sich: jüdische Terroristen wollen Adenauers Annäherung an Israel sabotieren. Doch von einem Tag auf den anderen gibt die Sonderkommission der Polizei nichts mehr bekannt. Die Presse muß die Berichterstattung beenden. Investigativer Journalismus ist noch weitgehend unbekannt. 1978 wird schließlich sang- und klanglos das Verfahren eingestellt. Zu einem Prozeß kommt es nicht – obwohl die Täter inzwischen bekannt sind und die Spur heiß ist. Was sind die Hintergründe dieser Geschichte? Der junge Staat Israel hatte enorme politische und wirtschaftliche Probleme. Lebten im Mai 1948 etwa 645.000 Juden in Palästina, waren es Ende 1951 bereits 1.342.000. Die Araber boykottierten das Land. Die völlig überforderte Wirtschaft kam nicht in Schwung. Die Lage wurde von Monat zu Monat dramatischer. Der Staat stand bereits vor dem Bankrott. Die von Kanzler Adenauer am 27. September 1951 vor dem Bundestag geäußerte „Bereitschaft zur moralischen und materiellen Wiedergutmachung“ wurde von der israelischen Regierung in dieser Situation aufgegriffen, um eine Milliarde Dollar aus Bonn zu fordern, Ost-Berlin sollte 500 Millionen Dollar zahlen. Auch die amerikanischen Juden wollten nicht abseits stehen: im Oktober 1951 schlossen sich im New Yorker Hotel Waldorf-Astoria 22 bisher zerstrittene jüdische Organisationen zur Conference on Jewish Claims Against Germany zusammen. Ihr Vorsitzender, Nahum Goldmann, auch Präsident des Jüdischen Weltkongresses, traf sich am 6. Dezember 1951 unter strengster Geheimhaltung im Londoner Hotel Claridge’s mit Adenauer. Goldmann kam durch den Lieferanteneingang. Als er das Nobel-Hotel verlassen hatte, war Israel um eine Milliarde Dollar wohlhabender. Goldmann, der „ausdrücklich nicht über Geldbeträge verhandeln wollte“, wie Sietz schreibt, nutzte die Gunst der Stunde. Adenauer stand nach einer zwanzigminütigen Ansprache des klugen „Claims Conference“-Präsidenten unter derartigem moralischen Druck, daß er die jüdischen Forderungen „zur Grundlage künftiger Besprechungen“ machte – und nach dem Vier-Augen-Gespräch ohne Kabinetts- Abstimmung schriftlich bestätigen ließ. Der gewiefte Taktiker aus New York hatte den Alten aus Rhöndorf schlicht über den Tisch gezogen. Ohne jegliche Rechtsgrundlage, ohne Verhandlungen, ohne Gegenleistungen. Allein die moralische Schuld als nicht genauer definierter Titel lieferte die Rechtsgrundlage, die den deutschen Staat in der Folge mehr als 100 Milliarden Mark kosten wird. Die Reaktion der israelischen Regierung auf Adenauers Brief spricht für sich: Zunächst „herrschte ungläubiges Staunen und über die Maßen Verwunderung“, dann geradezu Begeisterung, so weist Sietz nach. Doch in der israelischen Bevölkerung herrscht eine andere Stimmung: Man lehnt das „Blutgeld“ ab. Empörung, Protest, Demonstrationen folgen. Als die Knesset am 7. Januar 1952 das Thema debattiert, werden die Scheiben des Hohen Hauses eingeworfen. Sietz beschreibt eingehend die „bürgerkriegsähnliche Situation“. Im Parlament setzt sich Ministerpräsident David Ben Gurion knapp durch: mit 61 zu 55 Stimmen billigt die Knesset die Verhandlungen mit der Bundesrepublik. Doch der antideutsche Protest geht weiter. Sein heftigster Wortführer: Menachem Begin, Chef der Cheruth- Partei. Auf dem Jerusalemer Zionsplatz ruft er die Massen zum Bürgerkrieg auf: „Adenauer ist ein Mörder, jeder Deutsche ist ein Mörder. Das wird ein Krieg auf Leben und Tod.“ Der spätere Ministerpräsident Israels meint es ernst. Er ist seit den vierziger Jahren Leiter der jüdischen Terror-Organisation Irgun Zwai Leumi (Nationale Militärorganisation), die auch in Europa über ein Netzwerk mit zahlreichen Terror-Zellen und nicht zuletzt über besonders erfolgreiche Attentats-Erfahrungen verfügte: Am 22. Juli 1946 sprengte Begin mit seinen Leuten das britische Hauptquartier im Jerusalemer King David Hotel in die Luft. Dabei starben 91 Menschen. Die Briten sollten zur Zustimmung einer jüdischen Einwanderung und der Staatsgründung Israels gebombt werden. Dafür strebte Begin „eine zweite Front“ an. In rascher Folge entstehen Terrorzellen der Irgun in Brüssel, München, Zürich, Wien, Linz und Paris. Am 31. Oktober 1946 sprengte ein Irgun-Kommando die Fassade der britischen Botschaft in Rom. Die weltweite propagandistische Wirkung war enorm. Die Times titelte: „Irgun bedroht jetzt London“. Jüdische Terroristen seien schon im Land. In England breitete sich eine hysterische Stimmung aus. Seinem Ziel, die Briten aus Palästina hinauszubomben, war Begin einen großen Schritt nähergekommen, denn der Londoner Widerstand gegen die Staatsgründung ist gebrochen worden. Nach München fuhr Jakob Farshtey alias Ely L. Tavin, der mindestens ein halbes Dutzend Decknamen benutzte, selbst. Er war für Irgun als Geheimdienstchef tätig. Die Paketbombe an den deutschen Kanzler war für die Irgun typisch: einerseits eine perfekte, hochwirksame Konstruktion. Andererseits sollte die Bombe deutliche Spuren genau dieser Gruppe hinterlassen. So auch in München: die Decknamen der Täter wurden bewußt schlecht gewählt, für die deutschen Verfolger aufklärbar. Mitwisser führten auf die heiße Spur. Und damit wirklich kein falscher Verdacht entstehen konnte, bekennt sich der Hauptattentäter später sogar in seinen „akademischen“ Lebenserinnerungen: Nach dem Münchener Attentat floh Farshtey nach Paris, wurde – als deutsche Fahnder folgten – aus Frankreich ausgewiesen und lebte danach in Israel. Dort vertrat er Begins Cheruth-Partei in mehreren öffentlichen Ämtern – und kam sogar mit einer Arbeit über den illegalen Irgun-Kampf in Europa zu akademischen Ehren. Ein wohl einmaliger Fall: Ein Terrorist promoviert mit einer historischen Beschreibung seines eigenen Bomben-Kampfes zum Doktor der Geschichte. Farshtey alias Tavin starb schließlich 1994. Eine Verurteilung seiner Person wurde nie ernsthaft erwogen. Selbst das damalige potentielle Opfer, Konrad Adenauer, sprach sich dagegen aus. Foto: Die aufgeweckten Boten der Bombe mit dem Extrablatt der „Abendzeitung“: Ermittlungen wurden 1978 eingestellt Henning Sietz: Attentat auf Adenauer. Die geheime Geschichte eines politischen Anschlags. Siedler Verlag, Berlin 2003, gebunden, 334 Seiten, 19,80 Euro