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Abstieg in Jahresraten

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Weihnachts-Abo, Weihnachtsbaum, Zeitungen

Das Tagebuchführen als Genre schriftstellerischer Betätigung ist so verlockend, wie es auch verhängnisvoll sein kann. Reizvoll ist es in bezug auf die Leserschaft, die sich gern und mit verzeihbarem voyeuristischem Interesse in einen prominenten Alltag begibt, und freilich auch wegen der fehlenden Bedingung, Zusammenhang und Plot sinnvoll zu konstruieren, schreibt doch bekanntlich „das Leben selbst die besten Geschichten“. Zusätzlich, wenn nicht erstrangig, bietet das öffentlich geführte Tagebuch seinem Verfasser die verlockende Gelegenheit, mit Bedacht am Selbstbild und damit am Autorenbild der rezipierenden Mit- und Nachwelt zu feilen. Das Erfordernis lebensnaher Authentizität macht das Tagebuch schnell, obgleich nicht zwangsläufig, zu einem kunstfreien Raum. Vielleicht ist es deshalb ein geradezu prädestiniertes Betätigungsfeld der Popliteratur und von Autoren der leichteren Muse; man denke an die Internet-Diarien einschlägiger Plauderer wie Benjamin von Stuckrad-Barre, Sibylle Berg oder Else Buschheuer. Gesetzt nun, man habe zu erraten, wessen Tagebuch folgende Zeilen, verfaßt 2001, entstammen: „Kritik am Kapitalismus (…) dürfte (…) Kritik an der Demokratie nicht grundsätzlich ausschließen. Und diesen Tabubruch (…) hielte ich für sehr gefährlich. Trotz all ihrer Schwächen gibt es keinen Grund, die Demokratie fahrlässig in Frage zu stellen. Viele Mißstände, die der Kapitalismus verursacht, könnten gemindert oder beseitigt werden, wenn a. der Weltstaat Wirklichkeit wird und b. dem Kapital ein sozialer Unterbau abgetrotzt werden kann, der dem Individuum eine Mindestversicherung bietet.“ Wem würde man diese nicht eben spitzfindigen, wenngleich durchaus salonfähigen Überlegungen zutrauen? Heike Makatsch, Sabine Christiansen, Peter Hahne? Falsch. Es ist Helmut Krausser, der in seinem „Januar“-Tagebuch solch gedankenschwere Mittelmäßigkeit formuliert, jener Autor, der einst als außerordentlich begabtes, Ernst-Jünger-verehrendes literarisches infant terrible gewürdigt wurde; als quer zum Allgemeinplatz schreibendes, Literaturbetrieb wie Medienöffentlichkeit mißachtendes Jungtalent. Krausser, Jahrgang 1964, als einen „Irren und Angeber“ (Thomas Kraft in seiner „Literatur der Neunziger“) zu disqualifizieren, war bereits möglich, als ihm 1993 mit seinem imposanten, tiefgründigen Epos „Melodien“ der schriftstellerische Durchbruch gelang. Dieser junge Schriftsteller war größenwahnsinnig und mit seinen Bekenntnissen zu „Elite“ und „Hierarchie“ politisch inopportun. Das mußte nicht jedem gefallen. So haftete ihm trotz seiner von Publikum und Kritik weitgehend positiv bis begeistert aufgenommenen Romane (zuletzt „Schmerznovelle“, JF 20/01) und Bühnenstücke das Attribut eines „Umstrittenen“ an. Im Mai 1992 begann Krausser mit dem Führen seiner Tagebücher, ein Monat sollte jedes Jahr aufgezeichnet werden, so daß das kürzlich erschienene „Tagebuch des Februar 2002“ das vorletzte der geplanten Reihe darstellt. Wie der „Januar“ letzten Jahres ist auch der „Februar“, bevor er gebündelt mit dem noch ausstehenden „März“ 2003 bei Rowohlt herausgegeben wird, zunächst in kleiner Auflage beim Münchner Belleville-Verlag erschienen. Helmut Kraussers Tagebücher – ein Abstieg in Jahresraten. Der Autor, der gerade noch im Akzente-Heft zum Thema „Tradition“ seinen Glauben an die „eigene historische Mission“ bekräftigte und sich selbst im „Februar“ als „fortschrittlicher europäischer Abendländer der Restwelt überlegen“ erklärt, scheint sich mehr denn je im Habitus des trendigen Dauerjugendlichen zu gefallen. Setzte er in seinen früheren Tagebüchern allzu jungtuerische Begriffe wie „locations“ noch in distanzierende Gänsefüße, wie er sich überhaupt als pedantischer (Lehr-) Meister des guten Schreibstils gerierte, wimmelt es im „Januar“ und „Februar“ von Tapes, Updates und Cities, und selbst ein biederes Versehen wird unversehens zum „unforced error“. Peinlich auch die satzbildenden Amerikanismen – immer wieder „macht“ etwas Sinn für Krausser oder wird auf Ereignisse „in“ 2000 zurückgeblickt, wird gar ein abgeschmacktes, unaufgeregten Tadel bedeutendes „o-o“, das nach dem Kinoerfolg „Kevin allein zu Haus“ mal eine zeitlang als allzu putziger Ausruf populär war, an Sätze gehängt. Ebenfalls diesjährig hat Krausser, bekennender Kinderhasser, dem Mütter „widerlich“ sind, gemeinsam mit der Illustratorin Susanne Straßer im Kunstmann-Verlag ein „Kinderbuch“ in Versform veröffentlicht, „Wenn Gwendolin nachts schlafen ging“, eine morbide Geschichte, die in einem Kinderzimmermassaker gipfelt, Horror für Kids (so heißt Nachwuchs bei Krausser) ab vier: Man tut halt, was man kann. Und, so Krausser selbst am 3.1.2001:“Ich weiß nicht mehr so genau, was ich will. Früher – ja, da wollte ich viel. Heute fange ich einfach an und spare mir den Umweg des Wollens.“ Das ist immerhin ehrlich, genau wie die zwei Tage später verschriftlichte Einsicht, die „Klimax meiner Kapazität ist Vergangenheit.“ Sicher kein schmerzfreies Bekenntnis für jemanden, der mit seinem Größenwahn als pflegenswerte Untugend zu kokettieren nicht müde wird. So wird im Februar-Tagebuch wiederum Hebbel als „Krausserianer“ eingeordnet und wie neckisch eingefordert, es sei an der Zeit, daß der Name Ernst Jüngers „sich an meinen hängt, nicht, wie bisher, umgekehrt“. Krausser wird älter und, das gesteht er ein, weiß es nicht recht und vor allem elegant zu bewerkstelligen. Immerhin ist die einst verschwundene Libido wiedergekehrt, und das wird häufig genug für mitteilenswert gehalten. Am 4. Februar etwa hatte Krausser „Lust auf Freiluftsex“ und schlägt zur Abhilfe ein entsprechendes Dienstleistungsgewerbe vor: „Es müßte Nutten für die Fußgängerzone geben oder für den englischen Garten, mit kleinen Zelten auf dem Rasen oder so. Oder Lutscherinnen, die am Wegrand hocken (…). Blowjobservice mit gleichzeitigem Schuhputzen – wär doch was!“ Der alternde Schriftsteller – kurzfristig impotent geworden, wie er eingesteht – und sein „kleines Zelt“: was raus muß, muß raus, unterschwellig dabei die Hoffnung, daß dieses Kokettieren mit dem Ruf eines unerhörten Provokateurs und womöglich latenten Frauenfeindes zu einem agileren Bild noch erhaltener Jugendlichkeit führt. Warum sonst sollte dem geduldigen Papier und der wertenden Leserschaft anvertraut werden, daß weibliche Quietschstimmen, die, egal was sie sagen, bei Helmut Krausser eine „Dauererektion“ verursachen? Oder das Dilemma, das darin gesehen wird, daß „man“ manchen Frauen gern das Geschlecht (Krausser bevorzugt hier eine ordinärere Wortwahl) küssen würde, anderen aber nur die Beine? Warum sonst den Uralt-Witz als selbsterlebte Begebenheit (Motto „Mein schwaches Gedächtnis“) schildern: (Krausser:) „Kennen wir uns nicht irgendwoher?“ – „Weißgott. Wir haben letztes Jahr gevögelt.“ – „Ach? Und? Wie war’s?“ Womöglich aus der gleichen Angst vor gereifter Gediegenheit rührt das penetrante verbale Fäkal-Gedöns wie „aufgeblasene Altkacke“ (zum Schreibstil von Botho Strauß), „schwanzlose Gehirnamputierte“, „Todesscheiße“, „Dummfresse“. In der Diktion des Autors: Krausser goes Eminem. Freilich bleibt auch in Kraussers Leben Platz für Gedanken jenseits der Trivialgenüsse. Das machte seine frühen Tagebücher, vor allem die der Sommermonate 1992-1994, zu einem exzeptionellen Leservergnügen, die so ätzende wie kluge Zeitkritik, das jungforsch Gewagte. Die von Krausser im Februar getroffene Feststellung, daß in den aktuellen Feuilletons Themen als neu behandelt würden, die er in seinen Tagebüchern schon sechs Jahre vorher aufgeworfen habe, darf als ein ausnahmsweise berechtigtes Selbstlob gelten. So konnte man zu Arne Schimmers euphorischem Urteil über Kraussers „magische Kunst“ und die „traumwandlerische Sicherheit des sprachlichen Zugriffs auf die verschiedensten Stoffe“ (JF 42/99) vor Jahren noch beifällig nicken. Seither jedoch ist – Kraussers Romanschaffen einmal außen vor gelassen – von Jahr zu Jahr ein dringenderer Mangel an originellen Gedanken, an klarsichtigen Beobachtungen festzustellen. Wo Krausser jetzt die Ebene der Filmkritiken, Fußballergebnisse und Videospiele verläßt und sich gesellschaftspolitisch oder gar philosophisch äußert, geraten Gedanken und Ausdruck verdächtig flach, unausgegoren obendrein. Zitierte die Welt kürzlich noch Krausser als Antimilitaristen, der die Wehrpflicht für ein „nationalistisches Auslaufmodell“ hält, äußert der Tagebuchautor „null Verständnis. Überhaupt keins. Nada.“ für die Gegner der Militäraktion in Afghanistan. Heideggers Sprachregelungen kichernd kommentieren – kurz, prägnant und differenziert wird Heidegger schon im Mai 1992 behandelt und verworfen -, Goethe-Gedichte „scheiße“ zu nennen, das ist mittleres Oberstufenniveau, bestenfalls. Wie das zu dem Bekenntnis und der Selbstherausforderung paßt, daß das Rezept des Schockens und Provozierens nicht tauge, daß man „immer sein Bestes geben“ müsse, „versuchen, den eigenen Begriff von Schönheit der Welt aufzudrängen“ (8.2.), weiß allein Krausser selbst. So kommt es, daß neben einigen zugegeben höchst luziden Kurzgedichten aus des Dichters eigener Feder aktuelle Zeitungsartikel wie von Mathias Horx, Thea Dorn und Robert Spaemann (letzterer verkörpert für Krausser aufgrund dessen Forderung nach Abtreibungsverbot einen „kaltfeuchten Hippie-Alptraum“), die der Tagebuchschreiber zum Teil über Seiten hinweg zitiert, zu den besseren Stellen der Diarien zählen. Kein Kostverächter zu sein, und zwar in keiner Hinsicht, das war Krausser schon immer wichtig zu betonen. Guter Wein, gutes Essen, schöne Frauen, das findet sich zuhauf auch in den alten Tagebuchbänden. Eine Charakterisierung als unmoralischer Mensch, der sich gern den Freuden der Sinne widmet, würde ihm wohl recht gefallen. Was ihn aber früher mit einem leicht dandyesken Ruch von Kulturelite umgeben hatte, klingt heute so: „Bea (das ist Kraussers Haupt- und Ehefrau) sieht sehr laracroftmäßig geil aus“ (12.1.), „eine der Tussen sah sehr scharf aus (Theaterbesuch am 3.2.), „Die Pizza von Pizza-Max ist wirklich exquisit, vor allem die Mista Cheesy, mit Mozarella im Rand“ (23.2.). So werden Tage und Wochen zum Schnellimbiß mit den solchem Lebensstil eigenen Problemchen, man beginnt, sich „Gedanken über eine zweite Cola und neue Käse-Nachos zu machen“ (28.2.), sich von Mobilfunkanbietern Laune und Tag verderben zu lassen (24.1.:“Mit Prepaid-Cards ist man der letzte Arsch“), einen „neuesten Sport auszuüben: DVD-Angebote miteinander vergleichen und die Schnäppchen abgreifen. (…) Einen großen, wichtigen Film (z.B. ‚Gladiator‘, viermal gesehen) nicht sofort als DVD zu besitzen, würde mich auf heiße Kohlen betten.“(2.1.). „Der Dreck, den man frißt, wird der Steinbruch den man klopft“, hatte Krausser in seinem Juli-Tagebuch 1994 festgehalten. Sein dümmster Gedanke dürfte das nicht gewesen sein. Helmut Krausser: Der 1964 in Esslingen geborene Schriftsteller galt lange Zeit als die große Nachwuchshoffnung der deutschen Literatur. Aus seiner Feder stammen Bühnenstücke („Haltestelle“, Lederfresse“), Gedichte, Erzählungen und Romane, darunter „Melodien“ (1993) und „Thanatos“ (1996). Zuletzt veröffentlichte er die „Schmerznovelle“ (2001). Helmut Krausser: Januar – Tagebuch des Januar 2001. Belleville Verlag, München 2001; ders.: Februar – Tagebuch des Februar 2002. Belleville Verlag, München 2002

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