Am 3. Oktober 2002 wurde das Brandenburger Tor in Berlin nach langer Sanierung wieder enthüllt. Wie kein anderes Bauwerk in Deutschland löst es Assoziationen und Emotionen aus. Am 9. November 1989 ging eine Szene um die Welt: Eine Ost-Berlinerin fleht die Grenzsoldaten weinend an, sie zum Tor zu lassen. Drei Kinder habe sie in der DDR geboren und zu ordentlichen Menschen erzogen, und immer habe sie sich gewünscht, das Tor in Würde zu durchschreiten – und wieder nach Hause zurückzukehren. Schließlich durfte die Frau den Pariser Platz überqueren, der 28 Jahre lang verboten war, um ergiffen, beinahe zärtlich die Säulen zu berühren. Von dieser Ergriffenheit und Würde war während der Enthüllung kaum etwas zu spüren. Die Hauptattraktion bildete der Auftritt eines Altstars aus der kommerzialisierten Endphase der „Neuen deutschen Welle“. Auf die Ebene der Individualentwicklung übertragen, entsprach die Inszenierung der Pubertätsphase, ästhetisch markierte sie die Schnittstelle von Unterhaltungs- und Jugendkultur. Zu deren Kennzeichen gehören das Anarchische, das absichtsvoll Unfertige, die Aufkündigung des Konsenses, der Verzicht auf gedankliche Kohärenz. Damit ist nichts gegen die Jugendkultur, aber viel gegen die Absicht der Veranstalter gesagt. Sie wollten Lockerheit, Ungezwungenheit, die Abkehr vom preußischen Stechschritt ausdrücken, doch es reichte nur zu verspannter Albernheit. Die Symbolik des Tores geriet aus dem Blick, sie wurde verdrängt. Unter den hunderttausenden Gästen aus dem In- und Ausland machte sich Enttäuschung breit. Die mißglückte Veranstaltung gibt Anlaß zu prinzipiellen Fragen: Warum diese Mischung aus Schnoddrigkeit, Zerknirschtheit und Unreife? Woher kommt überhaupt die deutsche Unfähigkeit zu feiern? Warum hat der Staat so wenig Stil? Warum wirken seine politischen Repräsentanten so steif (Peter Struck), tantenhaft (Ulla Schmidt) oder musterschülerhaft (Joseph Fischer)? Liegt es an Rot-Grün? Oder an Hitler? Am Sturz der Monarchie 1918? Man muß noch weiter ausholen und berücksichtigen, daß im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts der aristokratische Kanon zum Vorbild „nationaler Verhaltens- und Empfindungsmuster“ (Norbert Elias) und der staatlichen Selbstdarstellung wurde. Das Handeln der adligen Oberschichten basierte ursprünglich auf einem kriegerisch-machiavellistischen Ehrenkodex. Ihre Herrschaft kollidierte mit den Interessen des aufsteigenden Bürgertums, das sich auf einen egalitären und humanistischen Kanon stützte. Die Adaption des Adelskanon durch die Bürgerschichten ging mit seiner inhaltlichen Umdeutung einher. Indem er in die Gesellschaft einsickerte, wurde er demokratisiert und verbürgerlicht. Die Kernfrage war dabei die Einhegung des Militärischen, das seit Jahrhunderten die Domäne des Adels war. Es vollzogen sich also zwei parallele Prozesse: Erstens die demokratische Adaption aristokratischer Zeremonien, zweitens die Aristokratisierung ziviler und demokratischer Tugenden. Tradionsstränge überdauern Systemwechsel Die Aneignung der alten Symbole und Rituale bildet eine Brücke zur Identifikation mit Staat und Nation. Zugleich stellt sie sich als ein Akt der gesellschaftlichen Emanzipation dar. Das Ergebnis ist ein stabiler und elastischer Konsens aus Zeremonien, Formeln, prägenden Institutionen, von denen eine nachhaltige Verbindlichkeit ausgeht. Man kann von einem kollektiven Kompromiß in Gestalt eines ästhetischen Ganzen sprechen, in dem sich Tradition, Geschichte und Gegenwart begegnen. Er ist für den Einzelnen nicht nur Fremdzwang, sondern auch die verinnerlichte Einsicht, die noch das Bewußtsein der Unvollkommenheit, die dem Kompromiß immanent ist, einschließt. Er setzt das Individuum ins Verhältnis zum Ganzen. Entsprechende Traditionsstränge überdauern selbst Revolutionen und Systemwechsel. In Frankreich fällt bis heute auf jeden Präsidenten ein Strahl des Sonnenkönigs und symbolisiert der Sieger des demokratischen Wahlakts in königlicher Tradition die Kontinuität und Einheit der Nation. In den USA wird das Präsidentenamt von zeremoniellen Weihen umgeben, die noch den belanglosesten Inhaber mit überpersönlicher Dignität ausstatten. Die positiven geschichtlichen Erfahrungen, die in solchen Symbolen, Zeremonien und Institutionen lebendig gehalten werden, das Bewußtsein von Kontinuität, das sie vermitteln, die Spielregeln, die sie tradieren, regulieren auch das politische Tagesgeschäft. Gerade in schwierigen Situationen mahnen sie die Akteure sowohl zu Selbstvertrauen, als auch zur Demut. Der Bedeutungsgehalt des Brandenburger Tores kann an dieser Stelle nicht einmal angedeutet werden. Am 9. November 1989 wurde es zum symbolischen Mittelpunkt des an diesem Tag „glücklichsten Volkes der Welt“, wie Berlins Regierender Bürgermeister Walter Momper damals sagte. Und die Welt freute sich mit ihm. Man muß heute nüchtern feststellen, daß die deutsche Staatselite keine Form gefunden hat, um diesen Glücksmoment durch die Zeit zu tragen. Der Verzagtheit, die das Land regiert, wurde am 3. Oktober nur modischer Unernst beigemischt. Arnulf Baring macht für diese Stimmungen und Defizite ein unverarbeitetes „1945“ verantwortlich, welches das „Bürgertum“ paralysiere. Ähnlich argumentierte Thomas Schmid in der FAZ, das deutsche Bürgertum habe „1933“ seine „Selbstaufgabe“ vollzogen. Deshalb fehle heute die selbstbewußte Elite. Die Wahrheit ist, daß in Deutschland der wechselseitige Prozeß von Verbürgerlichung und Aristokratisierung nur ungenügend stattgefunden hatte. Der Adelskanon entfaltete zwar seine vorbildhafte Wirkung, doch ohne daß die ihm zugrunde liegenden, militärischen Wertvorstellungen der bürgerlichen Zivilisierung unterworfen wurden. Der schneidige preußische Offizier wurde vom Bürgertum als Ideal übernommen, seine originären Ideale – Bildung, demokratische und humanistische Überzeugungen usw. – wurden in den Bezirk der Innerlichkeit zurückgenommen. Die gesellschaftliche Dominanz des Militärischen blieb bis weit in das 20. Jahrhundert hinein wirksam, in der DDR bis 1989. Ein Austausch zwischen aristokratischer Form und bürgerlich-demokratischer Gesinnung fand kaum statt. Die Gründe für diese historische Schwäche des Bürgertums – die übersteigerte Bedeutung des Militärs, die Kleinstaaterei, welche die ökonomische und gesellschaftliche Entwicklung hemmte, die Reichseinigung unter preußischer Vormacht – sind hinlänglich bekannt. Eine gesamtdeutsche, bürgerliche „gute Gesellschaft“ begann sich erst spät zu etablieren und hatte kaum Zeit und Möglichkeit, stilbildend zu wirken. Kaiser Wilhelm II. bemühte sich, einen Staatsstil zu kreieren. Als Basis stand ihm allerdings nur die karge, militärisch zentrierte preußische Königstradition zur Verfügung, die das liberale Bürgertum, soweit es sich treu blieb, und die Arbeiterschaft abstieß. Wilhelms Reisen, Reden, Stapelläufe, Grundsteinlegungen, die vielen Fotos und Filmaufnahmen, die er von sich anfertigen ließ, waren der Versuch, ein einheitliches Reichsbewußtsein herzustellen. Doch der Modernität der technischen Mittel entsprach keine Einsicht in politische und gesellschaftliche Notwendigkeiten. Das Militär und das – laut Verfassung gar nicht vorhandene – Gottesgnadentum des Kaisers blieben dem Parlament, dem „Reichsaffenhaus“ (Wilhelm II.), klar übergeordnet. Die BRD verzichtete auf einen expliziten Staatsstil Wilhelms Anstrengungen, dem Kaiserreich eine Form zu geben, glitten daher oft ins Lächerliche und Stillose ab. Ein Beispiel bietet ein Gemälde, das Max Koner 1891 malte: Das 2,40 Meter hohe Bild zeigt den uniformierten Kaiser in auftrumpfender, allgewaltiger Pose. Die weit vorgestreckte rechte Hand ist auf einen Kommandostab gestützt, ein kostbarer, wallender Mantel liegt auf seinen Schultern, der Kopf ist weit nach hinten geworfen, „vielleicht zu weit“, wie ein zeitgenössischer Kunstkritiker monierte. Die einschüchternde Wirkung wird noch verstärkt durch die Untersicht. Säulen und Bögen der Neorenaissance bilden die pompöse Kulisse. Die Formensprache versuchte den barocken Heroismus Ludwig XIV. noch zu übertreffen. Die Wirkung des Bildes war nicht bloß peinlich, sie war katastrophal. In der deutschen Botschaft in Paris ausgestellt, löste es beim französischen Kriegsminister Betroffenheit aus. Er sprach von einer „Kriegserklärung“. Fürst Bismarck beklagte in seinen Memoiren, daß sein Nachfolger im Kanzleramt, Graf Caprivi, ein Offizier, nur in militärischen, statt in politischen Kategorien zu denken imstande sei. Selbst Wilhelm II. räumte nach seinem Sturz ein, daß die auswärtige Politik nach Bismarcks Abgang den europäischen Nachbarn „keine ebenbürtige diplomatische Kunst entgegenzustellen verstanden“ und ihr „Wille und Geist“ gefehlt habe. Doch die hier klagten, hatten selber dazu beigetragen, daß der militärisch durchsetzte Adelskodex sich gegen die bürgerliche Humanitas verschloß und in anachronistischer Weise auf Politik und Gesellschaft einwirkte. Max Weber, der Bismarck achtete, war auch sein schärfster Kritiker: „Eine politische Tradition (…) hinterließ der große Staatsmann überhaupt nicht. Innerlich selbständige Köpfe und vollends Charaktere hatte er weder herangezogen oder auch nur ertragen.“ (Herv. im Orig.) Bismarck habe ein machtloses Parlament „mit tief herabgedrücktem geistigen Niveau“ hinterlassen. Das Adelsgepränge blieb somit Ausdruck anachronistischer, vordemokratischer Denkweisen und Ansprüche. Ein Bürgertum, das der Weimarer Republik demokratisches Selbstwußtsein und würdige Formen verleihen konnte, war 1918 nur in Ansätzen vorhanden. Die Republik fühlte sich daher zu schwach, den monarchischen Formenkanon zu adaptieren und verzichtete auf eine ansprechende Selbstrepräsentation. Das war eine entscheidende Schwäche. Der kunststinnige Harry Graf Kessler, ein Demokrat, beschrieb 1930 ein Dinner der Preußischen Staatsregierung als Synthese aus verdruckster Innerlichkeit und Betriebskantine: „Der Eindruck auf mich war schauerlich. Wo früher ein farbenprächtiges Bild, schöne oder in ihrer Aufmachung schön erscheinende Menschen die Säle festlich füllten, eine einförmige, formlose graue Masse, wie Läuse, die sich wie ein trüber Alltag durch die alte Barockpracht hindurchschob.“ Nach der Hypertrophierung staatlicher Formen durch Hitler verzichtete die BRD auf einen expliziten Staatsstil, der gänzlich diskreditiert zu sein schien. Adliges Gepränge und befrackte Bürgerlichkeit waren zusätzlich durch den „Tag von Potsdam“ belastet. Gewiß, es gab Ausnahmen, die sich an erratischen Persönlichkeiten festmachten. Adenauer trat 1949 ungebeten auf den roten Teppich der Hohen Kommissare. Die Trauerfeier für Willy Brandt 1992 war würdevoll und bewegend. Zur Trauermusik aus der Händel-Oper „Saul“ trugen Bundeswehroffiziere den Sarg die Stufen des Reichstags hinab. Einige Jusos glaubten dagegen protestieren zu müssen, in Wirklichkeit hatten sie nichts verstanden. Brandt, der Widerstand real und nicht erst nachträglich mit dem Mundwerk geleistet hatte, war mit sich und seinem Land im reinen. Schon bei der Bundestagswahl 1971 hatte er plakatieren lassen: „Deutsche, wir können stolz sein auf unser Land!“ Zu nennen wäre noch Richard von Weizsäcker. Aber das sind Ausnahmen. Die BRD präsentierte sich als kleinbürgerlich verfaßtes Land, das sein Selbstbewußtsein aus dem wirtschaftlichen Erfolg schöpfte. Jetzt ist der wirtschaftliche Erfolg nicht mehr selbstverständlich und der Mangel integrierender politischer Symbolsprache akut. Die deutsche Politik leidet an formaler Verplebsung Man muß Schröder, Fischer usw. zugute halten, daß sie von Helmut Kohl kein Erbe übernehmen konnten. Es ist bemerkenswert, daß Jürgen Habermas über das „Ungeformte“ von Kohl, über die „Gegenmentalität“, die er verkörperte, warmherzige Worte fand: „Aber meine Jahrgänge erkennen in ihm auch einen Generationsgenossen wieder. Ich denke an das schon beinahe körperliche Dementi von Staatsästhetik …“ Kohls wichtigste Staatsinsignie war die Strickjacke. Den außenpolitischen Dialog inszenierte er als Gespräch unter Familienangehörigen, wie es schon vor dem Ersten Weltkrieg, als an der Spitze der meisten europäischen Länder miteinander verwandte Monarchen standen, so plump nicht mehr stattgefunden hatte. Der Vorwurf an Kohl lautet nicht, daß er es unternommen hat, das Kleinbürgerliche auf die Staatsebene zu erheben – das ließe sich als ein emanzipatorischer Vorgang begreifen -, sondern daß er den Blick auf das Politische verstellt hat. Die symbolische Aussage des gemeinsamen Saunabesuchs mit Boris Jelzin erschöpfte sich in der tautologischen Zote: Boris und ich in der Sauna bedeutet Boris und ich in der Sauna. Über das deutsch-russische Verhältnis war damit, wie der Streit um die Beutekunst oder die russischen Altschulden zeigt, nichts gesagt. Für die Ex-DDR-Bürger, die mit der Sowjetunion und dem Boris-Typus eigene Erfahrungen hatten, war die pfälzisch-russische Verbrüderung über ihre Köpfe hinweg sogar eine Beleidigung. Wie wenig die Kohlsche Vertraulichkeit die andere Seite beeindruckte, ist in den Memoiren Margaret Thatchers nachzulesen. Ihr Bericht über das Treffen mit dem Kanzler am 30. April 1988 im pfälzischen Deidesheim ist die Schilderung eines steilen Niveaugefälles im Politikverständnis: Die Stimmung war laut Thatcher „heiter, anheimelnd und ein wenig übertrieben gemütlich (im Orig. dt.; A.d.Ü.) … Zum Mittagessen gab es Kartoffelsuppe, Saumagen (der dem Bundeskanzler offensichtlich mundete) und Würstchen mit Sauerkraut und Leberknödel.“ Sie fügt hinzu: „Ich verstand, was Helmut damit ausdrücken wollte, und fand diese Haltung sympathisch. Doch ich teilte nicht seine Schlußfolgerungen.“ Schröders Anti-Bush-Rhetorik im Wahlkampf war gewissermaßen die Fortsetzung der „Strickjacke“ unter negativem Vorzeichen. Litt die deutsche Politik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts an formaler Bombastik, so leidet sie heute, mit ähnlichen Folgen, an formaler Verplebsung. Dieses Extrem läßt sich nicht durch Willensakte oder Regierungswechsel, sondern nur durch Reifeprozesse in eine ruhige Mittellage bringen. Eine würdige Feier am Brandenburger Tor hätte dazu ein Anfang sein können. Sie wäre kein Ausdruck romantischer Selbsterhöhung gewesen, sondern des Willens, zu Maß und Selbstvertrauen zu finden und schließlich auf Augenhöhe Politik zu machen – auf Augenhöhe gegenüber anderen Ländern und gegenüber den hausgemachten Problemen. Foto: Enthüllung des Brandenburger Tors am 3. Oktober 2002: Der Modemacher Willy Bogner öffnet den mit seinem Firmenlogo versehenen Reißverschluß einer Plane des schwedischen Energiekonzerns Vattenfall