Claude Chabrols „Süßes Gift“ beginnt mit der standesamtlichen Trauung eines reiferen Paares (Isabelle Huppert und Jacques Dutronc) – einer Wiedervermählung, wie wir schnell erfahren. Die Ringe sind dieselben, und noch während die Gäste sich über die Vergangenheit und ihre Totenaustauschen, beginnt die Geschichte sich ebenfalls zu wiederholen: die schöne, dunkle, künstlerisch begabte Rivalin; das abendliche Ritual mit der liebevoll zubereiteten heißen Schokolade; die Tabletten, ohne die der berühmte Konzertpianist nicht schlafen kann; die nächtliche Autofahrt auf der Serpentinenstraße am Genfer See. Ein Hochzeitsfoto in der Zeitung weckt das Interesse der jungen Jeanne. Sie spielt selbst Klavier und wird bald zum gerngesehenen Gast in Marie-Claires und Andrés musikdurchfluteten Märchenschloß hoch über Lausanne. Einzig Andrés Sohn – am selben Tag in derselben Klinik geboren wie Jeanne und kurzzeitig mit ihr verwechselt – macht aus seinem Mißtrauen kein Hehl. Guillaume spielt nur Computerspiele und weiß auch sonst nicht so recht, was er will. Seine verdrossene Miene verfolgt den Zuschauer, der sich von den charmanteren Hauptpersonen einnehmen läßt. Hier lenken Frauen die Geschicke: Marie-Claire leitet die von ihrem Vater geerbte Schokoladenfabrik mit derselben perfekt manikürten Hand, die zu Hause die kaum sichtbaren Fäden zieht. Chabrol nutzt die Leinwand als Raum, um Distanzen zu erzeugen, begleitet Stimmungsnuancen mit Klaviermusik. Man merkt: Er ist bei Alfred Hitchcock in die Lehre gegangen, hat sich die kältesten Szenen aus „Bei Anruf Mord“ wieder und wieder angesehen. Tatsächlich verfaßte der damalige Filmkritiker gemeinsam mit Eric Rohmer eine Monographie über den Meister des Psychothrillers, bevor eine Erbschaft ihm erlaubte, 1957 sein Regiedebüt „Die Enttäuschten“ zu drehen. „Süßes Gift“ ist ein spannend erzählter Film, der nichts wirklich Spannendes zu erzählen hat. Selbst die Geschichte der vertauschten Babies, die anfangs handlungstreibend scheint, interessiert nur die klatschsüchtige Mutter von Jeannes Freund Axel. Einen Film über die Perversität wollte er drehen, sagt Chabrol, über ihre Opfer wie ihre Adepten. Dazu zählt er André, „dessen Ich abgetrennt von der Außenwelt zu existieren scheint“. Dazu zählt er natürlich die intrigante Marie-Claire, aber auch die Gesellschaft, „die womöglich eine Ausdrucksform der Perversität ist“: „Wenn man in einer Welt voller bürgerlicher Sicherheiten lebt und selbiger beraubt wird, ist die Erlebniswelt pervertiert. Da werden Sicherheiten zu Gift.“ Ein solcher Begriff des Perversen ist zu beliebig, zu gewollt skandalös, um die Phantasie in Gang zu setzen; seine Gestaltung zu stilsicher, um eine über die Ästhetik hinausgehende Resonanz auszulösen.
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