Die Passion Jesu Christi ist ein Ereignis, welches es nicht nur schafft, die Religiosität und die Frömmigkeit der Menschen zu bewegen, sondern auch das Interesse für die psychologischen und gesellschaftlichen Umstände, die zu diesem politischen Verbrechen geführt haben, zu wecken. Das liegt daran, daß das gesamte Leidensgeschehen nicht nur ziemlich detailliert in den Evangelien beschrieben ist, sondern auch in einer Art und Weise, in der jeder Mensch sich in irgendeiner Form mit dem Geschehen identifizieren kann und sich selbst wiederfindet. Die vier Berichte der Passion Christi im Neuen Testament besitzen somit eine Universalität, die man wohl nirgends sonst findet. Diese Universalität inspiriert seit Jahrhunderten Künstler und Literaten in allen Winkeln der Welt.
Meine Aufmerksamkeit weckte in dieser Fastenzeit insbesondere die Figur des Pontius Pilatus, die wichtigste politische Persönlichkeit im Passionsbericht. Die Umstände, die zur Anklage gegen Jesus führten, sind rasch geschildert: Aus verschiedenen religiösen und politischen Gründen bildete sich eine Verschwörung gegen Jesus Christus. Für ein Todesurteil bedurfte es aber einer richterlichen Entscheidung des römischen Statthalters, also Pilatus. Auf diese Weise bekommt eine Figur, die bis zu diesem Zeitpunkt in den Evangelien gar nicht vorgekommen war, eine Schlüsselrolle in diesem zentralen Ereignis des Neuen Testaments und im Glauben aller christlichen Konfessionen. Analysieren wir deshalb etwas genauer das Verhalten des Römers und versuchen wir zu verstehen, wie es zu seinem verbrecherischen Richterspruch kam.
Günstiger Gesprächsbeginn, aber die Wahrheit stört
Das erste Verhör Jesu durch Pilatus ist gut im Johannes-Evangelium Kapitel 18, Verse 28 bis 38 beschrieben. Pilatus merkte schnell, daß Jesus lediglich Opfer einer Verschwörung und daher unschuldig war. Während der Unterhaltung zeigt Pilatus Interesse für Jesus und beginnt, sein Herz zu öffnen. Jesus deutet ihm seine Mission an und sagt ihm, er sei ein König, aber nicht von dieser Welt. Doch das Gespräch endet ungünstig, denn Widerstand bäumt sich im Herzen Pilatus’ auf, als Jesus ihm sagt, er sei gekommen, Zeugnis von der Wahrheit abzulegen. Pilatus’ berühmte und folgenschwere Antwort darauf: „Was ist Wahrheit?“
Diese Infragestellung ist der entscheidende Wendepunkt im Prozeß gegen Jesus. Ab diesem Zeitpunkt ist Pilatus von Angst erfüllt und nicht mehr primär interessiert, die Wahrheit herauszufinden und ein gerechtes Urteil zu fällen. Sein Hauptanliegen ist, seinen Posten und seine recht bescheidene Macht zu verteidigen. Durch diese innere Haltung wird er zunehmend zum Spielball derjenigen, die gegen Jesus intrigieren.
Aus purer Feigheit übergibt er Jesus der Folter
Nach dem ersten Verhör geht Pilatus zu den Klägern und stellt fest: „Ich finde keinen Grund, ihn zu verurteilen.“ Pilatus hätte Jesus freilassen müssen, doch er fürchtete sich. So bot er an, den Verbrecher Barrabas anstatt Jesus hinrichten zu lassen. Das Angebot wurde abgelehnt. Immer noch wollte Pilatus Jesus freilassen, doch damit die Gegner Christi auf ihre Kosten kommen, ordnete er eine Geißelung an. Die Geißelung nach Art der römischen Strafordnung war eine äußerst grausame Strafe, die nicht selten zum Tod des Verurteilten führte. Der römische Flagello hatte an den Enden der einzelnen Riemen Bleikugeln mit Hacken, die sich in das Fleisch des Verurteilten einbohren konnten und ihm ganze Fleischstücke herausrissen.
Halten wir fest: Pilatus’ Schwäche war kein Hindernis, eine solche Tortur anzuordnen. Ganz im Gegenteil: Weil er nicht Manns genug war, den Gegnern Jesu die Stirn zu zeigen, ordnete er ungerechterweise – aus purer Feigheit – eine Folter an.
Der Wendehals wird ängstlich
Der Satz „Was ist Wahrheit?“ zeigt aber, daß Pilatus nicht nur schwach war, sondern auch unfähig, sich feste Urteile zu bilden. Er war ein Wendehals, der es demjenigen Recht tat, der den größten Druck ausübte. Weil er unfähig geworden war, die Wahrheit zu erkennen, war er auch nicht mehr fähig, gerecht zu urteilen und zu handeln. Allein die Angst um den Verlust seines Postens war die Richtschnur seines Lebens.
Nach der Geißelung zeigte Pilatus Jesus seinen Anklägern, wohl in der Hoffnung, Mitleid für den Gemarterten zu erzeugen. Dabei sagte er: „Seht, ich bringe ihn zu euch heraus; ihr sollt wissen, daß ich keinen Grund finde, ihn zu verurteilen“ (was er eigentlich bereits mit der Anordnung zur Geißelung getan hatte). Pilatus’ Vorgehen erzeugte aber kein Mitleid, sondern genau das Gegenteil. Die Forderungen nach einer Hinrichtung wurden noch heftiger vorgetragen. Der Evangelist berichtet: „Als Pilatus das hörte, wurde er noch ängstlicher.“
Dann bist du kein Freund des Kaisers!
Pilatus verzweifelte zunehmend und versuchte, in einer erneuten Unterredung mit Jesus einen Ausweg zu finden: „Daraufhin wollte Pilatus ihn freilassen“, doch nicht dabei die Sympathie der Kläger verlieren. Deshalb war Pilatus nicht in der Lage, die Ankläger in die Schranken zu weisen. Die Furcht ergriff ihn zusehends. Er verzweifelte geradezu. Doch sein Gewissen verbot ihm immer noch, das Todesurteil auszusprechen.
Seine endgültige Kapitulation kam, als man ihm folgende Drohung entgegenschleuderte: „Wenn du ihn freiläßt, bist du kein Freund des Kaisers“. Was zu Jesu Zeit diese Drohung konkret bedeutete, erklärt Gerhard Kroll: „Was nämlich der Verlust der kaiserlichen Freundschaft bedeutete, das konnte Pilatus aus dem Schicksal seines Amtskollegen, des ägyptischen Statthalters Cornelius Gallus, studieren. Der Kaiser entzog diesem den Ehrentitel seiner Freundschaft, und der Beamte wurde aus dem Staatsdienst entlassen. Bald aber brach über den Entlassenen eine Flut an Beschuldigungen und Denunziationen herein, die dem abgesetzten Staatsbeamten nur einen Ausweg offenließen: den Selbstmord (Sueton, Augustus 66). Pilatus wußte das alles sehr genau.“ (Gerhard Kroll: Auf den Spuren Jesu, S. 354).
Unfähig, Gewißheiten zu bilden
Pilatus gab jeden Widerstand auf und verkündete prompt das verbrecherische Todesurteil. Sein Verhalten soll uns eine Warnung sein: Er gab sich in dieser Situation seiner Schwäche hin, weil er nicht zur Bildung von Gewißheiten fähig war. Das machte ihn zu einem ängstlichen Menschen, wodurch er zu grausamen und ungerechten Entscheidungen imstande war. Sein eigener Nutzen war sein Leitfaden. Um diesen zu verteidigen, war er zu allem fähig.
Dadurch ist Pilatus zum Prototyp des korrupten und eigensüchtigen Politikers geworden. Er ist so etwas wie das Vorbild aller Politiker, denen die Wahrheit und die Gerechtigkeit egal sind und die sich nur nach Eigennutz richten. Er war sogar bereit, abzustreiten, daß es eine Wahrheit gibt, wenn ihm das nützlich erschien: Solche Politiker sind zu den größten Grausamkeiten und Ungerechtigkeiten fähig.