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„Auch der Bürger, der an den Verbrechen nicht beteiligt war, ja nichts von ihnen wußte, ist mitschuldig geworden, weil er lässig war gegen die Verkehrung aller sittlichen Maßstäbe und Rechtsnormen in unserem Volk. Wir können auch uns und unsere Gemeinden nicht ausnehmen von dieser Schuld.“

Diese Worte verabschiedete die in Bethel bei Bielefeld versammelte Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland am 13. März 1963 als Teil einer längeren Erklärung. Sie nahm direkt Bezug auf die damals gerade angelaufenen größeren NS-Prozesse, und sie forderte im weiteren Verlauf nichts Geringeres als „uns mit den jetzt Angeklagten vor Gott und sein Gericht rufen zu lassen“. Wer nichts tat und nichts wußte, geschweige denn, daß er je irgendwelche Taten gewollt oder gefördert hätte, der sollte demnach mit den unmittelbar Verantwortlichen und Ausführenden von Massentötungen moralisch auf einer Stufe stehen – und sich in diesem Sinn bekennen. Mit dieser Erklärung bezog die EKD sich ganz direkt auf den damals laufenden Auschwitzprozeß, der damit quasi zum Gottesgericht über das gesamte deutsche Volk verklärt wurde.

Dies ist einer der ganz extremen Gründungstexte jener bundesdeutschen Zivilreligion, über die der evangelische Theologe Richard Ziegert vor einiger Zeit ein ebenso betiteltes, sehr interessantes Buch geschrieben hat. Er bezeichnet sie als den „protestantischen Verrat an Luther“, wofür es durchaus Gründe gibt. Denn zu den Grundzügen dieser Religion zählt zum einen, daß sie eine rein innerweltliche Religion ist, die ihre Legitimität aus der Konstruktion eines innerweltlichen Sündenfalls bezieht, für den es permanent Buße zu tun gilt.

Profiteur eines eingeredeten Schuldgefühls

Dieser Sündenfall war demnach die nationalsozialistische Ära; die Buße besteht in der Verinnerlichung eines ewigen Schuldgefühls. Der Verwalter (also der intellektuelle und materielle Profiteur, wie man hinzufügen muß) dieses Zustands ewiger Schuld ist die Kirche. Erlösung, Vergessen oder Verzeihung sind nicht vorgesehen. Eine Unschuldsvermutung kennt dieses „Gottesgericht“ der EKD schon gar nicht.

Ziegert arbeitet im Detail heraus, wo das historisch herkommt, auch schon – lange – vor 1963, und wie es funktioniert. Bereits an diesen ersten Grundzügen wird aber erkennbar, daß es sich eigentlich nicht um eine christliche Religionsform handelt. In ihrem Zentrum stehen weltliche Ereignisse, die sich vor nicht allzu langer Zeit zugetragen haben. Die daraus abgeleiteten Forderungen zielen auf ein bestimmtes Verhalten gesellschaftlich-politischer Natur. Wer sich wundert, warum in Gottesdiensten in der BRD so viel von der lastenden Geschichte, vom Klimaschutz und der sozialen Ungerechtigkeit die Rede ist und so wenig von religiöser Transzendenz und den Gewissensfragen des einzelnen, der wird bei Ziegert manche Antwort finden.

Als Historiker kann man nun kaum anders, als auf das groteske Mißverhältnis dieser EKD-Erklärung zur historischen Realität hinzuweisen, die damals erst zwei Jahrzehnte zurücklag. War das deutsche Volk „lässig“, als es zwischen dem immer willkürlicher agierenden Polizeistaat von innen, dem Bombenterror von oben und dem täglichen Studium endloser Gefallenenlisten (allein in Rußland fielen im Schnitt 2.000 Soldaten pro Tag) eingekeilt war? War es „eine Verkehrung aller sittlichen Maßstäbe“, die von allen Seiten mit der teilweise ausdrücklich erklärten Absicht zum Verbrechen und zur Vernichtung von Staat und Volk hereindrängenden Feinde so lange aufzuhalten, wie es eben ging?

Einfältige Deutung der jüngeren Zeitgeschichte, ausgehöhltes EKD-Christentum

Gehört es nicht zum Standardwissen, daß die, die von den später so hochgehaltenen NS-Verbrechen nichts wußten, sehr wohl um die Verbrechen der deutschen Kriegsgegner wußten, die ihnen das Regime nicht ohne Eifer zur Kenntnis brachte und die auch in Millionen von Briefen und Gesprächen ein Thema waren, denn die Frontsoldaten hatten viel davon gesehen? Ist es nicht – generell gesprochen – geradezu albern, der Kindergärtnerin und dem Obergefreiten die Verantwortung für das aufzuladen, was die Diktatoren und Präsidenten des Planeten untereinander austragen?

Man könnte das natürlich noch fortsetzen. Begnügen wir uns für heute mit dem ernsthaft zu prüfenden Gedanken, daß das Bekenntnis zu einer einfältigen Deutung der jüngeren Zeitgeschichte in der Bundesrepublik tatsächlich das Christentum ausgehöhlt und – unter Beibehaltung des „Markennamens“ – durch eine Zivilreligion ersetzt hat.

 

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