In der letzten Kolumne war hier von der deutschen Kriegserklärung an Rußland die Rede und davon, daß die deutsche Führung zu einem Großangriff auf Frankreich keinen „Plan B“ ausgearbeitet hatte, der in andere Richtungen hätte führen können. Auch das ist auf seine Art ein Rätsel.
Der deutsche Kaiser glaubte nämlich sehr wohl, eine Wahl zu haben. So wie die Dinge um den Monatswechsel Juli/August 1914 herum lagen, war aus seiner Sicht eine Offensive im Osten die bessere Option. Man könnte so die russische Aggression zurückweisen und die drohenden politischen Verwicklungen im Westen bis hin zum Kriegseintritt Großbritanniens vielleicht vermeiden. Als er aber seinen Generalstabschef Helmuth von Moltke darauf ansprach, fielen sozusagen beide aus allen Wolken. Vor die Aussicht gestellt, den einzigen und sorgfältig ausgearbeiteten Angriffsplan nicht sofort und energisch ausführen zu können, brach Moltke regelrecht zusammen und weinte – buchstäblich – Tränen der Enttäuschung. Der Kaiser fragte, ob denn nichts anderes vorbereitet sei und reagierte auf die negative Antwort seinerseits indigniert: „Ihr Onkel hätte mir eine andere Antwort gegeben.“ In der Tat hatte Moltke der Ältere als Sieger von Königgrätz und Sedan eine deutlich höhere Flexibilität bewiesen.
Diese Szene war auf den wirklich erstaunlichen Umstand zurückzuführen, daß es im später – als angeblich aggressiv – so vielgescholtenen deutschen Kaiserreich gar keinen vorbereiteten Gesamtkriegsplan gab. Die Regierungsverantwortlichen bis hinauf zum Kaiser wußten nicht, was die Militärs eigentlich dachten und taten. Es gab keine koordinierte Zusammenarbeit, bei der politische, militärische und andere Faktoren zusammen abgewogen worden wären. Politisch wollte man am liebsten überhaupt keinen Krieg. Wirtschaftlich war auch nicht das Geringste dafür vorbereitet. Militärisch folgte man dagegen dem „Dogma der Vernichtungsschlacht“, also der anhand von Beispielen aus der Antike entwickelten Vorstellung, einen der Gegner in einem Schlag endgültig besiegen zu können und dies als territorial vergleichsweise kleines Land in Mittellage auch tun zu müssen.
Es gab kein Gesamtkonzept
Der einzige Gegner, bei dem man sich dies zutraute, war nun einmal Frankreich, weshalb die Militärs zu einem vernichtenden Angriff auf den Erzfeind keine Alternative sahen. Man erwartete – zu Recht – früher oder später eine französisch-russische Aggression gegen Deutschland. Dann sollte dagegen losgeschlagen werden. Der rätselhafte Mangel an einem Gesamtkonzept, das für diesen Fall die tausendmal zitierte Clausewitzsche Redewendung vom Krieg als „Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“ berücksichtigt hätte und deshalb auf mehrere politische Ausgangslagen anwendbar gewesen wäre, sollte jedoch schließlich zur Niederlage beitragen. Es wurde den Angreifern in Ost und West allzu leicht gemacht, sich als die Angegriffenen darzustellen – mit politischen und deshalb schließlich militärischen Konsequenzen.