Ein unter Historikern ebenso bekanntes wie beliebtes Bonmot hebt spöttisch darauf ab, daß der natürliche Feind des Historikers eigentlich der Zeitzeuge sei. Der Hintergrund dazu ist ein schnell erzähltes Dilemma. Ohne Zeitzeugen oder Dokumente, die von Zeitzeugen hinterlassen wurden, funktioniert Geschichtsschreibung natürlich nicht. Das weiß jeder.
Auf der anderen Seite hebt der Historiker aber immer gern darauf ab, durch die jahrelange Beschäftigung und Analyse vieler Zeugenberichte und Quellen ein abgewogenes Bild einer vergangenen Epoche präsentieren zu können. So kennt denn auch fast jeder in der Branche das Problem, wenn ihm bei einem Vortrag ein Zeitzeuge gegenübertritt, der sich absolut sicher ist, eine bestimmte Sache sei eigentlich ganz anderes gwesen.
In dieser Hinsicht sind sogar die Althistoriker arm dran. Deren vergleichsweise wenige persönlich bekannte Zeitzeugen sind zwar schon das eine oder andere Jahrtausend verstorben. Wenn sie sich zu Wort melden, dann nur in Form unerwartet auftauchender Dokumente oder Funde, was oft schon „schlimm“ genug ist. Doch haben sie eben jene Informationen hinterlassen, die dem Althistoriker seine ambitionierten Deutungen über zum Beispiel hochpolitische Vorgänge des vierten Jahrhunderts unserer Zeitrechnung ermöglichen.
Nöte der heutigen Wissenschaft
Was aber nun tun, wenn diese Zeitzeugen an zentralen Stellen durchgängig Worte verwenden, die heutzutage als unkorrekt gelten? Man wird sich zum Beispiel erinnern, das eben erwähnte Jahrhundert in der Schulzeit ganz unbefangen als Völkerwanderungszeit der germanischen Stämme kennengelernt zu haben. Da ist „Volk“ enthalten, das geht derzeit innerhalb der Akademikerblase begrifflich eigentlich gar nicht mehr – und Stamm ist auch unmöglich. Doch ist spätestens dies – schrecklicherweise – tatsächlich ein zeitgenössischer Begriff.
Der Bonner Althistoriker Konrad Vössing führt gerade in seinem neuen Buch über das „Königreich der Vandalen“ anschaulich vor, in welche Nöte diese feindliche Wortwahl die heutige Wissenschaft bringt:
„Damit sind wir beim eminent wichtigen prozeßhaften Aspekt der Ethnogenese. Denn diese war weder irgendwie prädestiniert noch irgendwann abgeschlossen, vielmehr eine dynamische Entwicklung, bei der die historische Umgebung eine zentrale Rolle spielte. Deshalb versucht die neuere Forschung auch den Begriff „Stamm“ zu vermeiden (von „Volk“ ganz zu schweigen), der auch durch den Zusammenhang mit der „Abstammung“ in eine falsche Richtung weist. Allerdings muß man zugeben, daß die meist gewählte Alternative, der Quellenbegriff „gens“, eigentlich ähnlich gefährlich ist, jedenfalls, wenn man die genetische Wurzel erkennt. Ethnos, die griechische Übersetzung von gens, wäre in dieser Hinsicht unverdächtig, könnte aber über die Ethnologie als Völkerkunde ebenso falsche Assoziationen erwecken. Bleiben wir also bei dem hinreichend verfremdenden Begriff gens und halten fest, daß für die antike Begriffsbildung zwar sehr wohl die Vorstellung der Abstammungsgemeinschaft ursächlich war, die Realität der spätantiken ‚Großstämme‘ aber eine ganz andere war. (S. 29/30)“
Eiertanz um Volk und Stamm
Falsch, gefährlich und verdächtig ist demnach alles, was irgendwie mit Abstammung zu tun hat. So viel entnehmen wir diesem Eiertanz um Volk und Stamm, der vor dreißig Jahren ein herzliches Gelächter der Leserschaft produziert hätte und in dreißig Jahren wohl wieder produzieren wird. Denn mag der „Konflikt“ zwischen Historiker und Zeitzeuge auch unvermeidlich sein, er erlebt derzeit eine extreme Ausprägung.
Der zeitgeistbehaftete Historiker weiß es eben besser als der Zeitzeuge und sogar besser als die damals zeitgenössischen Historiker, die über die Züge germanischer Abstammungsgemeinschaften durch Europa berichtet haben. So wird die antike Geschichte an zentraler Stelle zum Phantasieprodukt der Zeitgenossen erklärt. Im Kampf zwischen heutiger Begriffsmode und den Zeitzeugen muß die Mode siegen. Der natürliche Feind muß besiegt werden.