Wir gehen wieder auf die Zeit einer großen Koalition der demokratisch mystifizierten Mitte zu. Auf ein parlamentarisches und suggeriert gesellschaftliches Miteinander der Solventen und Versorgten, eine latente Diskursethik für Fortgeschrittene, in der – bei wachsender sozialer Diskrepanz – alle rein rechtlich und didaktisch vor Diskriminierung und Ungleichbehandlung geschützt sind, zumal in der NPD das isoliert Böse ausgemacht wird, während alles andere pluralistisch, tolerant und daher oft beliebig dem Guten dient. Die res publicae, das waren mal die öffentlichen Sachen und Angelegenheiten. Gibt es sie so noch? Werden sie als solche wahrgenommen hinterm Dauerfeuer des Medientheaters?
Wer Muße hat, lese sich in den 180seitigen Koalitionsvertrag hinein. Es muß dabei nicht um die Suche nach Substantiellem gehen, sondern einfach darum, eine Gespür für diese Art lauer Rhetorik und Mittel-Mäßigkeit zu entwickeln, die zukünftig herrscht. Gemäß liberaler Ideologie sollte der Staat ja schwach sein; das ist er mittlerweile. Und was die Legislative betrifft, so stellt sich mit der Installierung des ominösen Hauptausschusses, der gerade parlamentarische Arbeit erledigt, ein ungünstiger Vorgeschmack ein.
Ich verfolge die Politik gleich allen in diesem Forum als Zeitungsleser, also mit der Ruhe und Gründlichkeit des vergangenen analogen Zeitalters. Fatal aber: Ich engagiere mich nicht. Immer weniger kann ich – leider! – mit jenen Bekennern anfangen, die politisch – ob links, ob rechts – auf der Suche nach dem Heil sind. Immer weniger erschließt sich mir beispielsweise der laufend ventilierte Begriff der Metapolitik und die Hoffnung, damit verändere sich etwas.
„Die abstrakten Worte zerfielen mir im Munde wie modrige Pilze“
Nähme man es wörtlich, so könnte man in den Forsten gar nicht mehr unterwegs sein, weil sich all die „Waldgänger“ als Jünger-Jünger dort das Revier streitig machen. Gibt’s hier eigentlich noch einen, der nicht auf „Waldgang“ ist? – Ernst Niekisch hinterließ dazu seine Gedanken.
Könnte man nicht den berühmten Chandos-Brief Hugo von Hofmannsthals, 1902 erschienen und als Absage an George schon so etwas wie eine Geburtsurkunde der Moderne, könnte man den nicht auf die Lust oder eher Unlust am Politischen beziehen? Dem fiktiven Lord Chandos geht es freilich nicht um Politik. Er beschreibt ein über ihn hereingebrochenes schöpferisches Unvermögen:
„Mein Fall ist, in Kürze, dieser: Es ist mir völlig die Fähigkeit abhanden gekommen, über irgend etwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen.
Zuerst wurde es mir allmählich unmöglich, ein höheres oder allgemeineres Thema zu besprechen und dabei jene Worte in den Mund zu nehmen, deren sich doch alle Menschen ohne Bedenken geläufig zu bedienen pflegen. Ich empfand ein unerklärliches Unbehagen, die Worte »Geist«, »Seele« oder »Körper« nur auszusprechen. Ich fand es innerlich unmöglich, über die Angelegenheiten des Hofes, die Vorkommnisse im Parlament oder was Sie sonst wollen, ein Urteil herauszubringen. Und dies nicht etwa aus Rücksichten irgendwelcher Art, denn Sie kennen meinen bis zur Leichtfertigkeit gehenden Freimut: sondern die abstrakten Worte, deren sich doch die Zunge naturgemäß bedienen muß, um irgendwelches Urteil an den Tag zu geben, zerfielen mir im Munde wie modrige Pilze.“
Das Elementare suchen, wieder dichter an das Leben heran, dorthin, wohin es einen verschlagen hat
Um in dieser wohl unangemessenen Übertragung zu bleiben: Nein, Verzweiflung und Defätismus seien politisch nicht angeraten, schon gar nicht die wohlfeile Arroganz der kalten zynischen Abständigkeit, die sich viele der daueranonymen Kommentoren auf Foren leisten, um mal so richtig auszupacken, was sie öffentlich nicht eintragen. Im Gegenteil: Bedürfte nicht auch das politische Denken, wenn man sich seiner schon zu befleißigen versucht, einer gewissen Demut, die in der Pflege von Urteilskraft liegt bzw. im Verzicht auf letztgültige Urteile, die ich immer wieder so häufig lese?
Ich selbst nahm den Mund sehr voll und setzte seit 2008 auf die Krise, in der Illusion, aus ihr könnte Bewegung entstehen. Das Gegenteil war der Fall. Technische Innovation und knallharte ökonomische Effizienz bei politischer Stagnation. Jedenfalls ideell. Selbst das Internet verbreiterte und verflachte Information und Diskussion eher, als beides zu vertiefen. Ich hörte, Wachstum und Wertschöpfung fänden statt, die Deutschland AG würde in vieler Hinsicht Weltmeister, aber das, was da materiell ablief – zum Vorteil vieler und zum Lob der Ingenieur- und Betriebswissenschaftler –, korrespondierte nach meinem Empfinden mit einer Verödung der deutschen Kulturlandschaft und einem statt dessen kultivierten Stumpfsinn.
Hofmannsthals künstlerisch desillusionierter Lord versucht, seinem Adressaten Francis Bacon die eigene Alternative zu schildern:
„Ich kann nicht erwarten, daß Sie mich ohne Beispiel verstehen, und ich muß Sie um Nachsicht für die Kläglichkeit meiner Beispiele bitten. Eine Gießkanne, eine auf dem Feld verlassene Egge, ein Hund in der Sonne, ein ärmlicher Kirchhof, ein Krüppel, ein kleines Bauernhaus, alles dies kann das Gefäß meiner Offenbarung werden. Jeder dieser Gegenstände und die tausend anderen ähnlichen, über die sonst ein Auge mit selbstverständlicher Gleichgültigkeit hinweggleitet, kann für mich plötzlich in irgendeinem Moment, den herbeizuführen auf keine Weise in meiner Gewalt steht, ein erhabenes und rührendes Gepräge annehmen, das auszudrücken mir alle Worte zu arm scheinen.“
Vielleicht ließe sich das übertragend so verstehen: Die Chance darin suchen, sich den kleinen, den elementaren Dingen, dem Einfachen zuzuwenden. Gewissermaßen „phänomenologisch“. Nicht gleich die „Metapolitik“, das Raunen der Waldgänger, die Wünsche nach Erlösung oder nach Revolution, sondern wieder dichter heran an das Leben selbst. Dort, wohin es einen verschlagen hat. Das ist doch der Waldgang, wird mancher sagen. Tatsächlich?