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Legt auf!

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Zu meinen kulturellen Defekten gehört eine Abneigung gegenüber dem Telefon. Als ich vierzehnjährig in ein DDR-Internat kam – damals entschied das eher die „Abteilung Volksbildung“ als die Eltern –, besorgte sich meine Mutter einen grauen Apparat über irgendeine Dringlichkeitsbescheinigung, denn lange nicht jeder verfügte in der anderen Republik über einen Anschluß. Immer mittwochs durfte ich anrufen, ab 19 Uhr.

Ich litt irre an Heimweh und sehe mich noch das Basaltpflaster Perlebergs entlanglaufen, drei dieser messingfarbenen 20-Pfennig-Stücke in der Hand. Die warf ich in den Münzfernsprecher an der Post ein und gab meinen Eltern Erfolgsmitteilungen durch, obwohl ich eher hätte heulen mögen und nach Hause wollte.

Damals war also die Telefon-Welt noch in Ordnung. Deutschland quatschte sich noch nicht leer. Wir waren in zehn Minuten mit allem durch, die Eltern zufrieden mit ihrem Jungen, und der trottete ins Internat zurück und heulte schnell noch ein bißchen für sich. Wohlig intensives Selbstmitleid ohne lange Leitung.

Wenn mitgehört wurde, dann bei den Grenztruppen

Während meiner Armeezeit war es mit dem Heimweh ebenso vorbei wie mit dem Telefonieren. Viel lieber als zu meinen Eltern wollte ich in den wenigen Kurzurlauben alle zwölf Wochen zu meiner Freundin Katrin D. nach Eisenach – ein halber Tag Zugfahrt hin, ebenso lange zurück, so daß nur ein paar Stunden melancholischer Nähe blieben. In der Grenztruppen-Kaserne waren wir ziviltelefonisch weitgehend abgeschnitten, mit der Ausnahme, in dringenden Fällen aus dem Zimmer der stellvertretenden Kompaniechefs anrufen zu dürfen, der währenddessen selbstverständlich an seinem Platz blieb und weiterqualmte.

Verfügte man über kleinkriminelle Energie, konnte man sich in einem Kabuff der Telefonanlage zwar an eine freie Leitung klemmen, dazu fehlte mir jedoch die Traute. Wenn mitgehört wurde, dann ja wohl bei den Grenztruppen.

Zu Beginn meines Studiums wechselte ich an der Karl-Marx-Universität Leipzig die Sektion, weil ich wegen bestimmter Geschichten, bei denen der vormundschaftliche Staat nun mal empfindlich war, etwas Streß mit der Stasi hatte. In der naiven Illusion, so aus deren Fokus zu geraten, gab ich einen Diplom-Studienplatz für Germanistik einfach zurück und wechselte schnöde ins Lehrerstudium. Eine kuriose Reduktion von Zukunftsplänen, die niemand verstand. Vermutlich nicht mal die Stasi. Über so was redete man nicht. Man ließ die anderen mit den Köpfen schütteln und war auf deren Kommentar gefaßt: Schön blöd!

„Endstellen“ waren selten, man verabredete sich verbindlich

Meinen Eltern teilte ich die kurze Rochade ein, zwei Semester lang gar nicht mit, und selbst dann nicht am Telefon, sondern schlicht per Postkarte. Sie schrieben in einem ernsten Brief zurück, ich solle mal bitte schleunigst nach Hause kommen und sicherheitshalber mein Studienbuch mitbringen, befürchteten sie verschwörungstheoretisch doch schon, ich wäre in das einzige wirklich subversive Studienfach gewechselt, das die DDR bereithielt: Theologie. Mitnichten!

Zum einen bin ich kein Christ, zum anderen wechselte man nicht in diese klassische Fakultät, wenn man die Stasi loswerden wollte. Im Gegenteil, damit hatte man sie schnell auf dem Hals, auch unterm vermeintlich sicheren Dach der Kirche. Und ich war offenbar einer der wenigen DDR-Bürger, die sich nicht im passiven oder gar aktiven Widerstand engagierten. Statt dessen saß ich grübelnd in der Deutschen Bücherei und drückte mich polemisch nur in der Kneipe aus.

Im übrigen war das Telefonieren in der DDR nicht so einfach. Es gehörte mehr dazu, als nur einen Hörer abzunehmen und Ziffern zu drehen. Die Vielzahl von getrennten Telefonnetzen im Land funktionierte – wenn überhaupt – „gassenbasiert“, was bedeutete, daß ein Ort verschiedene Vorwahlen hatte, je nachdem, von wo aus man anrief. Jedes Ortsnetz mit eigenem Vorwahlverzeichnis! Verglichen mit heute ein Chaos, das schnell die Ausrede nahelegte: Du, von dem Ort aus kannte ich Deine Vorwahl nicht.

Privat wurde nicht so viel telefoniert, weil eben nur wenige über eine „Endstelle“ verfügten. Partei und Staat, die telefonierten, der Bürger schrieb eher Briefe. Oder verabredete sich verbindlich per Handschlag, ohne im nachhinein etwas telekommunikativ revidieren zu wollen oder auch nur zu können. – Ja, im Westen, hieß es, da hatte jeder ein Telefon! Sogar die Arbeitslosen hingen dort an der Strippe!

Nach der Wiedervereinigung begann die Quasselei

Nach Wende und Wiedervereinigung war das im Osten bald genauso, und noch zehn Jahre später begannen sich alle mit Handys auszurüsten, als bräuchten sie zum Festnetz noch ein Funkgerät. So konnte man keinen Anrufen mehr ausweichen. Es gehörte viel Übung dazu, einfach nicht ranzugehen. Plötzlich regelte alle Welt alles über Anrufe. Selbst die aufkommenden E-Mails, praktisch und schnell, begannen dagegen zur kommunikativen Hochkultur zu avancieren.

Sicher, ihre Flut stieg, sie wurden lästig, aber sie machten kein Geräusch und waren schnell wegzuknipsen. – Mal ganz zu schweigen von dem Abenteuer, eine Hotline anzurufen, wenn man ein Problem hatte. Es gibt wohl kaum jemanden, der den Schreidialog mit einer Computerstimme ohne Adrenalin–Überschwemmung überstand, wenn er wiederholt hörte: „Ich habe Sie nicht verstanden. Bitte wiederholen Sie!“

Wurde man privat angerufen, lief man Gefahr, nicht nur substantielle und kurz gefaßte Mitteilungen zu hören, sondern darüber hinaus eine Menge Prosa, die man interpretieren und auf die man wenigstens aus Höflichkeit reagieren mußte. Je mehr Probleme, um so länger und redundanter die Texte. Früher blätterte man sich diese Epen in Briefen auf und war relativ frei darin, den Zeitpunkt der Lektüre zu wählen. Oder darauf zu verzichten. Mit dem Telefon geschah alles sofort und in Echtzeit: Hallo, schön, daß du gleich dran bist …

Eine Art der Nötigung

Anzurufen, wenn es nicht um Leben, Tod oder Leidenschaften geht, halte ich für eine Art Nötigung. Daher beginne ich meist so: Guten Tag! Heino Bosselmann hier. Haben Sie gerade die Zeit bzw. die Möglichkeit zu sprechen oder wollen wir uns anders vereinbaren. – Ich bin kein allzu höflicher und schon gar kein ausgewiesen moralischer Mensch, möchte nur niemandem von einem Moment auf den anderen mit meinen ihm fremden Angelegenheiten kommen.

Ich selbst wurde übrigens noch nie gefragt, ob ich gerade telefonieren wolle oder könne. Im Gegenteil. Kürzlich rief mich ein Künstler an, als ich während einer Honorar-Unterrichtsstunde das Handy nachlässigerweise nicht ausgeschaltet hatte. Ich verließ den Raum und teilte mit, er möge entschuldigen, ich wäre gerade im Unterricht: Nein, das mache ihm doch nichts aus, sagte er, da müsse ich mich jetzt nicht entschuldigen.

Also: Auflegen, roter Hörer am Display. Ruhe im Netz.

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