Es ist jetzt schon einige Jahre her, daß ich nach verpaßtem Anschlußzug des Nachts in Frankfurt am Main strandete. Ich hatte nun einige Stunden Zeit, bis der nächstmögliche Zug um fünf Uhr irgendwas fuhr, also beschloß ich, mich im Bereich des Bahnhofs herumzutreiben. Vielleicht fände sich ja eine Kneipe oder – vielleicht stimmten ja auch die Gerüchte über die Gegenden rund um Hauptbahnhöfe. Also wollte ich, der Olivier Stalmann-gestählte Abenteurer, mal einen Blick auf die Welt des Rotlichts werfen.
So viel kann ich vorab schon sagen: Den Bereich hinterm Bahnhof habe ich gefunden, eine Kneipe jedoch nicht. Vor einem Nachtklub umarmte mich plötzlich eine große, dicke, schwarze Frau. Sie war nicht nur groß, dick und schwarz, sondern größer, dicker und – wenig überraschend – schwärzer als ich. Nach der Umarmung ließ sie ihren kräftigen dicken Arm auf meiner Schulter und bugsierte mich in Richtung einer Tür, hinter der ein mit Spiegeln versehener Treppenabgang war.
Mir schwante sowohl Übles als auch Anregendes. Ich bin mir heute noch sicher, daß ihre Vehemenz kein Interesse an meiner, wie ich finde, außerordentlich sympathischen Erscheinung signalisierte. Vermutlich wollte sie nur, daß ich acht Euro für ein Bier ausgebe oder 45 Euro für einen Piccolo.
Verteilte Rollen, einige Erkenntnisse und der sittliche Maßstab
Wie ich auf diese Idee komme? Einige Jahre später lernte ich in einem wirklich unverwerflichen Kontext eine damals 41-jährige, ungarische Nachtklubtänzerin kennen. Sie war schon seit einigen Jahren freiberuflich in Deutschland tätig und kannte das Geschäft in seinen recht unterschiedlichen Facetten. Wir haben uns angefreundet, und sie hat mir ihr Metier und die Umstände ziemlich genau geschildert. Also war es im nachhinein betrachtet nicht ganz verkehrt, mich dem Griff der größeren, dickeren und schwärzeren Dame entzogen zu haben. Sie hatte wohl nichts wirklich Böses im Sinn, aber Zuneigung war sicher nicht ihr erster Antrieb.
„Sex sells“, heißt es im Marketing. Das mag ein Grund für die eifrige Diskussion unter den Artikeln von Matthias Gersdorf und Ellen Kositza sein, die sich in den vergangenen Tagen zum Thema Prostitution geäußert haben. Vielleicht auch ein Grund für die Vehemenz der in den Kommentaren geäußerten Meinungen, wobei man hin und wieder den Eindruck bekam, einige redeten wie Blinde von der Farbe.
Dabei ist die Lage so komplex, daß sie keine einfache Meinung, keine Verharmlosung und erst recht keine Verachtung zuläßt. Jedenfalls dürften die Rollen in diesem Gewerbe mehrfach geteilt sein: Freier, deutsche und ausländische Prostituierte, deutsche und ausländische Zuhälter, können in diesem Spiel wohl jeder gleichzeitig Täter, Opfer, Kunde und Dienstleister sein – letzteres gilt für den Freier natürlich nicht. Diese nicht besonders bahnbrechende Erkenntnis ersetzt freilich nicht die Notwendigkeit des sittlichen Maßstabs. Beim Versuch, aus der Welt ein Kloster oder ein feministisches Modellprojekt zu schaffen, würden wir jedoch scheitern.