Allenthalben trifft man auf Irritation und eine gewisse Verärgerung über den aktuellen Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland. Mit der Wahl Joachim Gaucks hatten viele die Hoffnung verbunden, er könnte als politischer Quereinsteiger mitteldeutscher Prägung die eingefahrenen Gleise und Gewohnheiten des Politikbetriebes wenigstens verbal verlassen. Die Auftritte des Präsidenten seit seiner Wahl vor fast einem Jahr haben solche Erwartungen allerdings enttäuscht. So präsentierte Joachim Gauck gerade in bezug auf das deutsche Volk in der Regel die gewöhnlichen Vorurteilsstücke des Sprachgebrauchs der Zweiten Republik, ohne auf die positiven Erfahrungen aus der Wendezeit zurückzukommen, als das „Volk“, wie ihm später vielfach bescheinigt wurde, eine friedliche Revolution zustande brachte.
Diese Distanz des Präsidenten hat Ursachen, die hier in einer kleinen Beitragsreihe beleuchtet werden sollen. Zur Eröffnung dieser Reihe sei deshalb eine Agenturmeldung dokumentiert, die der Autor dieser Zeilen für die besonderen Bedürfnisse des Monatswechsels vom März zum April des Jahres 2012 verfaßt hat, aber damals nicht veröffentlichte. Um Irritationen zu vermeiden, wird um die Beachtung des Datums gebeten:
„(Berlin, 1. April 2012) Wie erst jetzt aus Regierungskreisen bekannt wurde, hat sich Bundespräsident Gauck am Rande seines erfolgreichen Antrittsbesuchs in Polen zu den Themen geäußert, die er in seiner Amtszeit besetzen will. Als erstes großes Signal will Gauck demnach eine Initiative zur Streichung des Begriffs „deutsches Volk“ aus dem Grundgesetz ins Leben rufen. „Der Satz ‘Wir sind ein Volk’ war gültig für 1949, als das Grundgesetz geschrieben wurde und für das Jahr 1989“, wird der Präsident zitiert. „Wir werden uns immer gern daran erinnern.“ Heute aber habe der Begriff „Volk“ häufig eine ausgrenzende Wirkung auf eine wachsende Zahl der bundesdeutschen Bevölkerung. Viele Menschen mit Migrationshintergrund fühlten sich für die Bundesrepublik verantwortlich, seien aber durch die Wortwahl des Verfassungstextes an der Wahrnehmung dieser Verantwortung gehindert, so Gauck. Das Grundgesetz dürfe kein Integrationshindernis werden.
„Gauck hatte den Begriff des Volkes bewußt vermieden“
Gauck sieht in der geplanten Initiative eine konsequente Weiterentwicklung des für ihn zentralen Begriffs: der Freiheit. Freiheit dürfe nicht nur die Freiheit der Alteingesessenen sein, sondern müsse auch die Freiheit zur Integration sein. Heute sei diese Freiheit zudem durch einen Rechtspopulismus bedroht, der mit dem Begriff „Volk“ gegen Menschen mit Migrationshintergrund agitiere. Der Bundespräsident beabsichtigt daher vorzuschlagen, die Worte „deutsches Volk“ im Grundgesetz durch „Bevölkerung“ bzw. „Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland“ zu ersetzen.
Bereits in seiner ersten großen Rede unmittelbar nach seiner Vereidigung hatte Gauck ein erstes Zeichen gegen Rechts gesetzt. Er hatte den Begriff „Volk“ bewußt vermieden und zugleich angekündigt, die integrationspolitischen Vorstöße seines Vorgängers Christian Wulff weiterführen zu wollen. Negative Folgen für die weiterhin dringend nötige Bewältigung der deutschen Vergangenheit befürchtet Gauck nicht. Der Freiheit stehe immer auch die Verantwortung gegenüber. Bereits heute wüchsen die Jugendlichen mit Migrationshintergrund in die kollektive Verantwortung für deutsche Untaten hinein, die Deutschland auch künftig moralisch und finanziell zu tragen habe. Dies werde nur erleichtert, wenn alle Einwohner der Bundesrepublik, gleich woher sie kämen und unabhängig von ihrer Staatsbürgerschaft, sich als gemeinsamer Teil einer Bevölkerung verstehen könnten. Gerade das Erlebnis seiner Vereidigung habe Gauck für diese Problematik sensibilisiert, da ihn der Eid darauf beschränken wolle, für das Wohl des deutschen Volkes zu arbeiten.
In einer ersten Stellungnahme begrüßten vor allem die Grünen die geplante Initiative. Fraktionschef Jürgen Trittin erklärte, er hätte die erste Strophe des Deutschlandlieds bei Gaucks Wahl lauter mitgesungen, wenn er damals schon informiert gewesen wäre. Im Bundeskanzleramt war zunächst niemand für eine Stellungnahme zu erreichen.“