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St. Petersburg und Europa (II)

St. Petersburg und Europa (II)

St. Petersburg und Europa (II)

 

St. Petersburg und Europa (II)

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Der Nordische Krieg zwischen Schweden und Rußland, von dem hier letzthin die Rede war, wurde 1709 mit einer Schlacht im ostukrainischen Poltawa zugunsten des Ostens entschieden. Der russische Zar, Peter der Große konnte seine neue Ostseeresidenz St. Petersburg in Ruhe weiterbauen und sie 1712 zur neuen Hauptstadt erklären. Sich selbst gönnte er auch einen neuen Titel; nicht nur Zar, auch „Imperator“ wollte er seitdem genannt werden. Rußlands Westkurs aber ging ungebremst weiter.

Für das russische und das schwedische Volk hatte das jeweils eigentümliche Folgen. In Skandinavien setzte man sich mehr und mehr zur Ruhe, hielt sich in Zukunft eher aus den Händeln heraus, wurde „neutral“, bürgerlich und schließlich bequem. „Die Schweden sind seit Poltawa fett geworden wie die Kapaune“, schrieb der russische Literaturnobelpreisträger Alexander Solschenizyn zweihundertfünfzig Jahre später. „Und was ist mit uns?“

In der Tat lernten die Russen in den nach Poltawa kommenden Jahren, Jahrzehnten und schließlich Jahrhunderten ausgiebig die Schattenseiten des Anspruchs kennen, ein großes Imperium betreiben zu wollen. Schon der Bau von St. Petersburg verschlang nicht nur Unsummen, er kostete auch Menschenleben und bremste die Entwicklung des übrigen Landes. Beim Bau der Entwässerungs- und Verkehrskanäle und den Pfahlgründungen für die Häuser der neuen Hauptstadt starben zehntausende zwangsverpflichtete Arbeiter. Da Petersburg schnell prächtig werden sollte und die Zahl der russischen Steinmetze ohnehin überschaubar war, wurde der Bau von Steinhäusern im übrigen Land für mehr als ein Vierteljahrhundert schlichtweg verboten.

Imperium lebte von der Substanz

An diesen Methoden änderte sich nichts Grundsätzliches. Die bald sprichwörtliche russische Autokratie feierte deshalb zwar große Erfolge im militärischen Bereich. 1734 rückte man in Warschau ein, 1757 erstmals in Berlin, 1814 schließlich in Paris. Man expandierte in den Kaukasus, nach Zentralasien und nach China. Aber nach innen lebte das Imperium zum großen Teil von der Substanz. Das Volk wurde in Leibeigenschaft und Unterentwicklung gehalten, lokale oder regionale Selbstverwaltung gab es kaum. Rußland blieb arm und ineffizient, seine Struktur und Kultur im Kern uneuropäisch. In der Kritik am pseudowestlichen Anstrich der russischen Eliten waren sich folgerichtig so unterschiedliche Naturen wie Jean-Jacques Rousseau und Oswald Spengler einig.

Am Ende überspannten die Zaren den Bogen und leiteten mit einem willkürlich-arroganten Konfrontationskurs gegen Deutschland und Österreich-Ungarn den eigenen Untergang ein. Das russische Volk war den Krieg satt, und nichts hat die Leninsche Oktoberrevolution mehr begünstigt als die eindeutige Position der Bolschewisten in dieser Frage. 1918 existierte das zaristische Rußland nicht mehr, statt dessen hatten Staaten wie Finnland, Polen, die baltischen Länder und die Ukraine zum ersten Mal in modernen Zeiten Gestalt angenommen. Nach der Weltkriegsära und dem „kurzen 20. Jahrhundert“ bestätigten sich diese Tendenzen. So blieb schließlich St. Petersburg ein einsam-exponierter russischer Vorposten an der Ostsee. Die umliegenden Eroberungen des 18. Jahrhunderts gingen wieder verloren, Rußland wurde politisch und militärisch von Europa weitgehend abgedrängt. Solschenizyn durfte das noch erleben und hat es trotz oder wegen seines Patriotismus in mancher Hinsicht begrüßt, als Chance Rußlands, zu sich selbst zu kommen – und vielleicht auch etwas Fett anzusetzen.

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