Manchmal treffen extrem unwahrscheinliche Ereignisse bekanntlich trotzdem zusammen, so zum Beispiel neulich. Auf dem Weg Richtung Süden nehme ich – wenn Zeit vorhanden ist – gerne einmal die Bundesstraße 9, ab Koblenz durchs Mittelrheintal, linksrheinisch direkt am Fluß entlang.
Das kommt vielleicht ein- oder zweimal im Jahr vor. Die Landschaft ist immer beeindruckend, manchmal fast schon unwirklich schön. So war es auch an jenem Wochenende, als die Ahnung des Herbstes und das Spätsommerwetter für echten Hochbetrieb sorgte. Die Stellplätze bersten vor Wohnmobilen, die Ausflugsdampfer kutschieren ein zahlreiches ältliches Publikum, nur ab und zu schlägt sich ein Frachter durchs Getümmel.
Was für die Landschaft gilt, trifft für die Orte am Mittelrhein allenfalls bedingt zu. Man sieht ihnen durchgehend an, daß sie ihre letzte gute Zeit in den Sechzigern und Siebzigern hatten. Jetzt wird viel über Bevölkerungsverlust geklagt, die Straßenanbindung ist irreversibel schlecht, die Touristen fliegen heute normalerweise lieber für Dreifuffzich nach Süden.
Hauch von Endzeitstimmung
Wer mit dem Wohnmobil vorfährt, hat oft schon alles selbst dabei. Für eigene Gewerbeentwicklung fehlt unter den romantischen Steilhängen schlicht der Platz. So sind denn die Immobilienpreise teilweise in Regionen gestürzt, die man sonst nur aus Gegenden in Mitteldeutschland kennt. Es gibt einen Hauch von Endzeitstimmung.
Irgendwo war „Volksfest“ plakatiert. Dieser Appell an den Durst ist ein Grund anzuhalten und mal wieder durchs Städtchen zu laufen. Der Eindruck ist wie erwartet. Obwohl Volksfest ist und sehr früher Samstag Nachmittag, sind fast alle Läden geschlossen. Es gelten offenbar auch die Öffnungszeiten der alten BRD.
Aber ein Viertel der Läden steht sowieso ganz leer, bei den übrigen kann man von nicht wenigen annehmen, daß ihr Angebot für den Betreiber allenfalls ein Zubrot oder ein Hobby darstellt. Irgendwelche der üblichen Schuh-, Kleidungs-, oder Fast-Food-Ketten gibt es hier nicht; in den Seitenstraßen kann man allenfalls den obligatorischen Döner-Laden entdecken.
Das Volk läßt sich kaum blicken
Der Zutritt zum Volksfestgelände soll einen Euro kosten (Ja, einen Euro). Absperrungen und eine recht ansehnliche Truppe von Sicherheitsleuten wachen darüber, daß auch niemand diesen einen Euro prellt. Drin ist nicht viel los, das Volk läßt sich kaum blicken. Nun gut, es ist erst früher Nachmittag. Etwas erfrischt und mit gemischten Gefühlen fahre ich weiter.
Zu Hause blättere ich in den mitgebrachten Tagebuchaufzeichnungen, die der Grund für die Fahrt waren. Der Autor, Zeitzeuge des Zweiten Weltkriegs, beschäftigt sich erwartungsgemäß vorzugsweise mit dem eigenen Schicksal und der großen Politik der Kriegszeit. Dann aber eine Überraschung. Unter dem Datum des 26. Juni 1946 schreibt er:
„Ich finde in V. Scheffels ‘Trompeter von Säckingen’ folgenden erstaunlichen Vers: ‘Und wenn wir einst am Rhein des letzten Sproß germanischen Geblüts, Heimgegangen zu den Vätern, wandeln andere dort und schwärmen, und in weichen fremden Lauten sprechen sie das Wort: Ich lieb dich! Kennt die Männer ihr? Sie haben etwas plattgedrückte Nasen, ihre Ahnherren trinken jetzo fern am Arat und am Irrtisch zukunftssicher ihren Branntwein’. (1853!)“
Das Leben hilft dem, der sich selbst hilft
Der Tagebuchschreiber ahnte offenbar, daß 1945 in diesem Sinn etwas geschehen war. Notiert und weitergelesen. Später abends dann die Nachrichten angehört. Einen Steinwurf entfernt, in Mannheim tobt an eben diesem Tag die Schlacht. Die Männer vom Arat sind inzwischen angekommen. Sie feiern ein „Kulturfest“, sie sprechen allerdings – jedenfalls an diesem Tag – weniger von Liebe; sie jagen vielmehr dank überlegener Masse ein Häufchen Germanenpolizei vom Feld, weil sie hier ihre verbotene Flagge nicht einfach so zeigen durften.
„Synchronizität“ gibt es als Begriff für das Zusammentreffen solcher Erlebnisse, die jedes für sich genommen zufällig daherkommen, wegen der an sich unwahrscheinlichen Kombination dann aber manchmal fast schon schicksalhaft wirken. Das ist natürlich rein spekulativ. Letztlich hilft das Leben dem, der sich selbst hilft.