Die Dauerkrise des Euro und der sich abzeichnende Zusammenbruch des Finanzsystems lenken den Blick auf mögliche Alternativen: Es ist nicht verwunderlich, daß die von Silvio Gesell in seinem Hauptwerk „Die Natürliche Wirtschaftsordnung durch Freiland und Freigeld“ (1916) begründete Freiwirtschaftslehre auf wachsendes Interesse stößt, das sich praktisch in der Regionalgeld-Bewegung und theoretisch in der Neubewertung von Gesells Theorie durch die etablierte Volkswirtschaftslehre niederschlägt. So hat N. Gregory Mankiv, unter George W. Bush Vorsitzender des Councils of Economic Advisers, 2009 in der New York Times einen negativen Geldzins angeregt und dabei auf Gesell Bezug genommen.
Was hat es mit der „Freiwirtschaft“, zu deren Befürwortern neben bedeutenden Ökonomen und Unternehmern wie Franz Oppenheimer oder Heinz Nixdorf auch Prominente aller Schattierungen wie Albert Einstein, Ezra Pound, Michael Ende oder Eugen Drewermann gehören, auf sich?
Ihr Kernstück ist die Lehre vom „umlaufgesicherten“ Geld, das dem Wirtschaftskreislauf durch einen negativen Zins, eine Art „Rückhaltungsgebühr“, schnell wieder zugeführt werden soll. Einen Hintergrund bildete die Auffassung des Anarchisten Proudhon, daß der Geld- gegenüber dem Warenbesitzer aufgrund des Fehlens von Lager- und Verschleißkosten einen Vorteil habe, der ihm dessen Ausbeutung erlaube. Proudhon wollte diesem Mißstand durch eine Förderung des Tauschhandels mit Hilfe von „Warenbanken“, die den Anleger nach einer gewissen Zeit mit „frischen“ Gütern ausstatten, begegnen.
Taugt das „Wunder von Wörgl“ als Vorbild?
Gesell sucht dieses Problem nicht durch die Stärkung der Waren-, sondern durch eine Schwächung der Geldseite zu lösen: Sein Schwundgeld soll an Wert verlieren, je länger man es hortet, so daß jeder Geldbesitzer zu Konsum und Investition angeregt wird. Tatsächlich gelang es 1932 in dem Tiroler Städtchen Wörgl, durch die Ausgabe von Schwundgeld die darniederliegende Wirtschaft anzukurbeln und die Arbeitslosigkeit erheblich zu reduzieren; und da die Bürger ihre Gemeindesteuern so schnell wie möglich zahlten, konnten auch größere öffentliche Bauvorhaben realisiert werden.
Das Projekt erregte internationale Aufmerksamkeit, wurde aber bereits im folgenden Jahr auf Betreiben der Österreichischen Nationalbank eingestellt und von der Regierung sogar unter Androhung von Armee-Einsatz unterbunden. Freiwirtschaftler beschwören immer wieder das „Wunder von Wörgel“; das Jahr 2007 wurde von der Stadt zum „Wörgler Freigeldjahr“ erklärt, und 2009 schlug der amtierende Bürgermeister Abler die Einführung einer Freigeldwährung nach dem Vorbild seines berühmten Amtsvorgängers Michael Unterguggenberger vor.
Fraglich ist allerdings, ob das, was in einer begrenzen Region funktionierte, auf größere Maßstäbe übertragbar ist. Zudem erscheint das Experiment an eine akute Krisensituation gebunden, in der es nötig ist, den Geldfluß anzukurbeln, um Hungernde mit Lebensmitteln zu versorgen. Was aber ist, wenn ich nicht nur Brot, sondern ein Haus kaufen möchte? Wo soll der Privatmann genügend Geld hernehmen, wenn er es weder langfristig ersparen noch aufgrund der Abschaffung des Zinses leihen kann? Die Stadt Wörgl hat ihre Investitionen aufgrund ihrer Steuerhoheit tätigen können, aber dem privaten Investor steht diese Möglichkeit nicht zur Verfügung.
Geldreform mit Bodenreform gekoppelt
Die Lösung soll nach Gesell in der Verkoppelung des Freigeldes mit einer Bodenreform, einer Umwandlung des privaten Landbesitzes in Freiland, bestehen, so daß sich diese – ansonsten marktwirtschaftliche – Lehre mit sozialistischen Vorstellungen verbindet. Der Boden sei ein Naturprodukt, das allen gehöre. Doch selbst, wenn man dies zugesteht, ist nicht klar, wie ohne Zinswirtschaft größere Investitionen auf ihm zustandekommen sollen.
Die keynesianistische Lösung besteht darin, daß der Staat in Krisenzeiten Schulden machen und die Wirtschaft ankurbeln soll; tatsächlich zahlt er diese Schulden in prosperierenden Zeiten aber nicht zurück, wie es eigentlich sein sollte, sondern er steigert das Ausgabevolumen aufgrund der dem demokratischen Sozialstaat inhärenten Anspruchsmentalität immer weiter. Die Staatsschulden wachsen ins Unermeßliche und können nur durch Inflation getilgt werden – der Keynesianismus berührt sich hier mit der Schwundgeldlehre.
Eine wirkliche Alternative besteht wohl nur darin, statt beim abstrakten Zahlungsmittel bei konkreten Werten anzusetzen: Geld hat nur dann einen realen Wert, wenn es mit einem Goldstandard verbunden ist, da Gold aufgrund seines seltenen Vorkommens nicht beliebig vermehrt werden kann. Und Zinswirtschaft beziehungsweise das Verleihen von Geld ist nicht per se zu verteufeln, wenn der Gläubiger das Risiko selbst trägt und nicht vom Staat abgenommen bekommt. Er wird dann nur dort investieren, wo die Rückzahlung wahrscheinlich ist, das heißt, wo sinnvolle Arbeit und reale Sachwerte für Sicherheit sorgen.