Wenn ein Kind geboren wird, ist dies zumeist eine erfreuliche Nachricht. Ganz besonders erfreute mich kürzlich die Meldung von der Geburt eines Kindes, dessen Vater 94 und dessen Mutter 55 Jahre alt sind, zugegebenermaßen nicht primär um des Kindes, sondern um des Vaters und seines Alters willen, obgleich das der Mutter ebenso erstaunlich ist. In Zeiten künstlicher Befruchtung hat man sich an Mütter jenseits der fünfzig gewöhnt, aber bei diesem traditionell lebenden indischen Elternpaar scheint solche Nachhilfe ausgeschlossen zu sein und wurde auch nirgends erwähnt.
Doch ist der Fall wirklich so sensationell, oder liegt es an der Dekadenz einer Gesellschaft, in der vierzigjährige Männer – oder gar fünfundzwanzigjährige, mit Anabolika vollgepumpte Bodybuilder – Viagra nehmen, daß wir ihn so empfinden? Vielleicht übertreibe ich ein bißchen, wenn ich behaupte, daß bei uns wieder einmal das Natürliche als außerordentlich und das Krankhafte als normal gilt. Gewiß sind jene beiden Eltern ungewöhnlich bejahrt, aber ihr Geheimnis ist wahrscheinlich in einer gesunden Ernährung zu suchen: Von dem asketisch aussehenden Vater wird berichtet, daß er täglich drei Liter Milch sowie große Mengen Mandeln und Ghee (Butterschmalz) verzehre, also eine Diät halte, wie sie hierzulande vor allem von dem Arzt und „Vollwertguru“ Max Bruker in zahlreichen Büchern vertreten wurde.
Vollwertkost ohne Brot und Zucker
Der über 90 Jahre alt gewordene, als SA-Mitglied, spätere Kandidat der (an die Freiwirtschaftslehre Silvio Gesells anknüpfenden) Freisozialen Union sowie Mitglied der „Gesellschaft für biologische Anthropologie, Eugenik und Verhaltensforschung“ nicht unumstrittene Naturheilkundler propagierte eine aus fetthaltigen Milchprodukten, Nüssen, Obst, Gemüse und unbehandeltem, frisch gemahlenem Getreide zusammengesetzte Vollwertkost und führte einen erbitterten Kampf gegen den von ihm als Ursache zahlreicher Zivilisationskrankheiten angesehenen Industriezucker.
Ungeachtet der Radikalität, mit der Bruker auch von Eiweißlieferanten wie Fleisch, Eiern und sogar Fisch abriet, ist seine Ernährungslehre dem bis heute empfohlenen Modell der „Nahrungspyramide“ – mit einer Basis kohlehydrathaltiger Lebensmittel wie Kartoffeln und Nudeln, einem „Mittelbau“ aus Fleisch und Milchprodukten und einer kleinen Spitze aus Fetten und stark zuckerhaltigen Teig- und anderen Süßwaren – vorzuziehen.
Kohlenhydrate sind schuld
Erst seit einigen Jahren setzt sich zunehmend die Erkenntnis durch, daß insbesondere Kohlehydrate – vor allem Weißmehl und Zucker – für Fettleibigkeit und Diabetes verantwortlich sind, da sie eine dauernde Insulinausschüttung bewirken und die Fettverbrennung behindern, während man Eiweiß und Fette, wie jener betagte Inder, in großen Mengen zu sich nehmen kann, ohne an Körperfett zuzunehmen.
Nach meinen persönlichen Erfahrungen läßt sich diese Theorie durchaus bestätigen; ich verzichte weitgehend auf Brot oder Kartoffeln und wäre vermutlich noch schlanker, wenn ich dieselbe Konsequenz auch bei dem Genuß von Alkohol und Süßigkeiten vorwalten ließe. Wahrscheinlich aufgrund dieser diätetischen Grundausrichtung ist es mir aber möglich, solche „Sünden“ wegzustecken, oft doppelte Portionen zu verschlingen und dabei mein „Weltergewicht“ (rund 65 kg bei nicht häufigem, aber regelmäßigem Krafttraining; vor einigen Jahren ohne solches deutlich unter 60 kg) zu halten. Zugegebenermaßen bin ich mit 1,66 m auch nicht gerade riesig, aber entscheidend ist letztlich nicht das Gewicht, sondern der Körperfettanteil.
Ackerbauern und Hirtenkrieger
Der Favorisierung des Brotes liegt eine uralte, auf die neolithische Revolution zurückgehende und durch das Christentum religiös überhöhte Tradition zugrunde, deren unbestreitbarer Vorteil in der Effizienz der Nahrungsmittelproduktion besteht: Auf Getreidebasis lassen sich erheblich mehr Menschen als mit Milchprodukten ernähren, und vermutlich war der Übergang von nomadisierenden Hirtenkulturen zu seßhaften Gesellschaften und schließlich zu großen Flächenstaaten überhaupt erst durch diese Umstellung möglich. Vielleicht ist auch das Kriegertum nomadischer Stämme als ein Mittel zu verstehen, den Bevölkerungsüberschuß, den die effizienter wirtschaftende Agrargesellschaft auffangen konnte, loszuwerden.
Ungeachtet demographischer Fragen bleibt festzustellen, daß die indogermanischen Nomaden wahrscheinlich gesünder waren als die alteuropäischen Bauernvölker. Von hier ist ein großer Bogen zu jenem alten Inder zu schlagen – übrigens einem Anhänger Shivas, des „Lingaraja“, des „Herrn des (phallisch dargestellten) Zeichens“ sowie der Zeugungskraft.